Das Poincaré-Lemma ist ein Satz aus der Mathematik und wurde nach dem französischen Mathematiker Henri Poincaré benannt.
- Eine Differentialform
vom Grad
heißt geschlossen, falls
gilt. Dabei bezeichnet
die äußere Ableitung.
- Eine Differentialform
vom Grad
heißt exakt, falls es eine
-Differentialform
gibt, so dass
gilt. Die Form
nennt man eine Potentialform von ![{\displaystyle \omega .}](https://wikimedia.org/api/rest_v1/media/math/render/svg/2243e2ce8b3865a78e46f7e554deb7b3aaa09490)
Die Potentialform ist nicht eindeutig bestimmt, sondern nur "bis auf Umeichung" (siehe unten).
Wegen
ist jede exakte Differentialform auch geschlossen. Das Poincaré-Lemma gibt Voraussetzungen an, unter denen auch die umgekehrte Aussage gilt. Beim Beweis ergibt sich darüber hinaus eine Verallgemeinerung des Lemmas: Von jeder Differentialform lässt sich „per Konstruktion“ ein exakter Anteil abspalten.
Das Poincaré-Lemma besagt, dass jede auf einer sternförmigen offenen Menge
definierte geschlossene Differentialform exakt ist.
Die Aussage lässt sich abstrakter auch so formulieren: Für eine sternförmige offene Menge
verschwindet die
-te De-Rham-Kohomologie für alle
:
![{\displaystyle \mathrm {H} _{\mathrm {dR} }^{k}(U)=0}](https://wikimedia.org/api/rest_v1/media/math/render/svg/39f35a0b23a7f538d436f49c7735be1fa39d23e7)
Im dreidimensionalen Spezialfall besagt das Poincaré-Lemma, in die Sprache der Vektoranalysis überführt, dass ein auf einem einfach-zusammenhängenden Gebiet definiertes wirbelfreies Vektorfeld als Gradient eines Potentialfeldes
(
), ein quellfreies Vektorfeld auf einem konvexen Gebiet durch Rotation eines Vektorpotentials
(
), und eine skalare Felddichte („Quellendichte“) als Divergenz eines Vektorfeldes (
) dargestellt werden können.
Sei
der Punkt, um welchen herum
sternförmig ist. Das Poincaré-Lemma gibt explizit eine
-Form an, und zwar mit folgender Formel:
Einer beliebigen
-Form
lässt sich, Geschlossenheit nicht notwendig vorausgesetzt, eine
-Form
zuordnen, aus der sich bei Geschlossenheit die gesuchte Potentialform ergibt: Diese zugeordnete Form lässt sich durch folgende Abbildung definieren:
.
(Das Dachsymbol in der
-ten Spalte der rechten Seite bedeutet, dass das entsprechende Differential ausgelassen wird.)
Nun zeigt man direkt, dass folgende Identität gilt:
was formal der Produktregel der Differentiation entspricht und die durch
repräsentierten Eigenschaften in zwei Anteile zerlegt, von denen der zweite die gesuchte Eigenschaft besitzt.
Wegen der Voraussetzung
und wegen
ergibt sich zunächst
Dies gilt ohne Einschränkung der Allgemeinheit auch ohne das vorderste
der rechten Seite, und zwar deshalb, weil durch die Forderung
die Form
nur am Nullpunkt betrachtet wird, sodass wie beim Totalen Differential einer Funktion aus
bis auf sog. Eichtransformationen (siehe unten) auch
gefolgert werden kann.
Somit bleibt nur der letzte Term der obigen Identität, und es folgt die gesuchte Aussage:
mit
Die angegebene Identität verallgemeinert zugleich das Poincarésche Lemma durch Zerlegung einer beliebigen Differentialform
in einen nicht-exakten („anholonomen“) und einen exakten („holonomen“) Anteil (die eingeklammerten Bezeichnungen entsprechen den sog. Zwangskräften in der analytischen Mechanik). Es entspricht zugleich der Zerlegung eines beliebigen Vektorfeldes in einen Wirbel- und einen Quellen-Anteil.
In der Sprache der homologischen Algebra ist
eine kontrahierende Homotopie, die z. B. auf den zentralen Punkt des hier betrachteten sternförmigen Gebietes kontrahiert.
Das so definierte
ist nicht die einzige
-Form, deren äußeres Differential
ist. Alle anderen unterscheiden sich aber höchstens um das Differential einer
-Form voneinander: Sind
und
zwei solche
-Formen, so existiert eine
-Form
derart, dass
gilt.
Der Zusatz
wird auch als Eichtransformation bzw. Umeichung von
bezeichnet.
Aus der Elektrodynamik ist der Fall eines von einem stationären Strom erzeugten Magnetfeldes bekannt, mit dem sog. Vektorpotential
Dieser Fall entspricht
, wobei das sternförmige Gebiet der
ist.
Der Vektor der Stromdichte ist
und entspricht der Stromform
Für das Magnetfeld
gilt Analoges: es entspricht der Magnetflussform
und lässt sich aus dem Vektorpotential ableiten:
, oder
.
Dabei entspricht das Vektorpotential
der Potentialform
Die Geschlossenheit der Magnetflussform entspricht der Quellenfreiheit des Magnetfeldes
Unter Verwendung der Coulomb-Eichung
bzw. passend zu
gilt dann für i=1,2,3
![{\displaystyle A_{i}({\vec {r}})=\int {\frac {\mu _{0}j_{i}({\vec {r}}^{\,'})\,\,dx_{1}'dx_{2}'dx_{3}'}{4\pi |{\vec {r}}-{\vec {r}}^{\,'}|}}\,,}](https://wikimedia.org/api/rest_v1/media/math/render/svg/fbaa38be38b01039e6f9911f89223d5f95117b6f)
dabei ist
eine Naturkonstante, die sogenannte Magnetische Feldkonstante.
An dieser Gleichung ist u. a. bemerkenswert, dass sie vollständig einer bekannten Formel für das elektrische Feld
entspricht, dem Coulombpotential
einer gegebenen Ladungsverteilung mit der Dichte
. Man
vermutet an dieser Stelle bereits, dass
und
bzw.
und
sowie
und ![{\displaystyle {\vec {A}}}](https://wikimedia.org/api/rest_v1/media/math/render/svg/391292ffadc65b0cde3e96f23afcdb811619dd95)
zusammengefasst werden können und dass sich die relativistische Invarianz der Maxwellschen Elektrodynamik daraus ergibt, siehe dazu Elektrodynamik.
Wenn man die Bedingung der Stationarität aufgibt, muss auf der linken Seite der obigen Gleichung bei
zu den Raumkoordinaten das Zeitargument
hinzugefügt werden, während auf der rechten Seite in
die sog. „retardierte Zeit“
zu ergänzen ist. Es wird dabei wie zuvor über die drei Raumkoordinaten
integriert. Schließlich ist
die Lichtgeschwindigkeit im Vakuum.
In der Kontinuumsmechanik wird das Lemma auf Tensoren angewendet, was z. B. für die Aufstellung der Kompatibilitätsbedingungen gebraucht wird. Ausgangspunkt ist das Lemma in der Formulierung:
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|
(I)
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|
Der Operator „grad“ bildet den Gradient, die Vektoren
sind die Standardbasis des kartesischen Koordinatensystems mit Koordinaten
und es wurde die einsteinsche Summenkonvention angewendet, der gemäß über in einem Produkt doppelt vorkommende Indizes, hier k, von eins bis drei zu summieren ist, was auch im Folgenden praktiziert werden soll.
Gegeben sei nun ein Tensorfeld
, dessen Zeilenvektoren
mit dem dyadischen Produkt „⊗“ zum Tensor zusammengefügt werden. Jeder Tensor zweiter Stufe kann in dieser Form dargestellt werden. Die Rotation des Tensors verschwinde
![{\displaystyle {\begin{aligned}\operatorname {rot} (\mathbf {T} ):=\nabla \times (\mathbf {T} ^{\top })=&{\hat {e}}_{k}\times {\frac {\partial }{\partial x_{k}}}({\vec {t}}_{i}\otimes {\hat {e}}_{i})=\left({\hat {e}}_{k}\times {\frac {\partial {\vec {t}}_{i}}{\partial x_{k}}}\right)\otimes {\hat {e}}_{i}=\mathbf {0} \\&\rightarrow \quad {\hat {e}}_{k}\times {\frac {\partial {\vec {t}}_{i}}{\partial x_{k}}}={\vec {0}}\,,\quad i=1,2,3\end{aligned}}}](https://wikimedia.org/api/rest_v1/media/math/render/svg/203141f27c9b8f8b045f28e5cbf510e781442dd2)
so dass also jeder Zeilenvektor rotationsfrei ist. Dann gibt es für jeden Zeilenvektor ein Skalarfeld
, dessen Gradient er ist:
![{\displaystyle {\vec {t}}_{i}=\operatorname {grad} u_{i}\quad \rightarrow \quad \mathbf {T} ={\hat {e}}_{i}\otimes {\vec {t}}_{i}={\hat {e}}_{i}\otimes \operatorname {grad} u_{i}=\operatorname {grad} {\vec {u}}\,,}](https://wikimedia.org/api/rest_v1/media/math/render/svg/6725cfa11a7a7bb15254d31fef6dc70206c0bc08)
denn der Gradient des Vektors
bildet sich gemäß:
![{\displaystyle \operatorname {grad} {\vec {u}}:={\frac {\partial u_{i}}{\partial x_{k}}}{\hat {e}}_{i}\otimes {\hat {e}}_{k}={\hat {e}}_{i}\otimes {\frac {\partial u_{i}}{\partial x_{k}}}{\hat {e}}_{k}={\hat {e}}_{i}\otimes \operatorname {grad} u_{i}\,.}](https://wikimedia.org/api/rest_v1/media/math/render/svg/923aa292a8956ae22cf3a3b40a188c6abe613d58)
Damit gilt die zweite Form des Lemmas:
|
|
(II)
|
|
Wenn zusätzlich die Spur des Tensors verschwindet, dann ist das Vektorfeld divergenzfrei:
![{\displaystyle \operatorname {Sp} (\mathbf {T} )=\operatorname {Sp} ({\hat {e}}_{i}\otimes \operatorname {grad} u_{i})={\hat {e}}_{i}\cdot {\frac {\partial u_{i}}{\partial x_{k}}}{\hat {e}}_{k}={\frac {\partial u_{i}}{\partial x_{i}}}=\operatorname {div} {\vec {u}}=0\,.}](https://wikimedia.org/api/rest_v1/media/math/render/svg/1c0da1d5c7151064eda82f109f51dbba4942f476)
In diesem Fall berechnet sich mit dem Einheitstensor 1 = êj ⊗ êj:
![{\displaystyle {\begin{aligned}\operatorname {rot} (\mathbf {1} \times {\vec {u}})=&{\hat {e}}_{k}\times {\frac {\partial }{\partial x_{k}}}[({\hat {e}}_{j}\otimes {\hat {e}}_{j})\times u_{i}{\hat {e}}_{i}]^{\top }={\frac {\partial u_{i}}{\partial x_{k}}}[{\hat {e}}_{k}\times ({\hat {e}}_{j}\times {\hat {e}}_{i})]\otimes {\hat {e}}_{j}\\=&{\frac {\partial u_{i}}{\partial x_{k}}}(\delta _{ik}{\hat {e}}_{j}-\delta _{jk}{\hat {e}}_{i})\otimes {\hat {e}}_{j}={\frac {\partial u_{i}}{\partial x_{i}}}{\hat {e}}_{j}\otimes {\hat {e}}_{j}-{\frac {\partial u_{i}}{\partial x_{j}}}{\hat {e}}_{i}\otimes {\hat {e}}_{j}\\=&-\operatorname {grad} {\vec {u}}\end{aligned}}}](https://wikimedia.org/api/rest_v1/media/math/render/svg/1e202a97fab987cf7b1040d8a1d66feb53620c51)
und der Tensor
ist schiefsymmetrisch:
![{\displaystyle (\mathbf {1} \times {\vec {u}})^{\top }=({\hat {e}}_{i}\otimes {\hat {e}}_{i}\times u_{j}{\hat {e}}_{j})^{\top }=\epsilon _{ijk}u_{j}{\hat {e}}_{k}\otimes {\hat {e}}_{i}=-u_{j}{\hat {e}}_{k}\otimes {\hat {e}}_{k}\times {\hat {e}}_{j}=-\mathbf {1} \times {\vec {u}}}](https://wikimedia.org/api/rest_v1/media/math/render/svg/e1f4e477882044c901feedf6f4e87a0992f6468d)
Darin ist ϵijk = (êi × êj) · êk das Permutationssymbol. Mit
folgt die dritte Form des Lemmas:
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(III)
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oder mit
und dem Nabla-Operator
|
|
(III)
|
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- Otto Forster: Analysis. Band 3: Integralrechnung im ℝn mit Anwendungen. 4. Auflage. Vieweg + Teubner, Braunschweig u. a. 2007, ISBN 978-3-528-37252-1.
- John M. Lee: Introduction to Smooth Manifolds (= Graduate Texts in Mathematics 218). Springer-Verlag, New York NY u. a. 2003, ISBN 0-387-95448-1.
- C. Truesdell: Festkörpermechanik II in S. Flügge (Hrsg.): Handbuch der Physik, Band VIa/2. Springer-Verlag, 1972, ISBN 3-540-05535-5, ISBN 0-387-05535-5.