
Das Kleinhirn oder lateinisch Cerebellum ist ein Teil des Gehirns von Wirbeltieren, der gemeinsam mit dem BrĂŒcke (Pons) genannten Bereich des Hirnstamms das Hinterhirn (Metencephalon) bildet. Hinterhirn und Markhirn (Myelencephalon oder VerlĂ€ngertes Mark) bilden zusammen das Rautenhirn (Rhombencephalon). Das Kleinhirn entwickelt sich ĂŒber der Rautengrube aus der Kleinhirnplatte und ist bei Wirbeltierarten verschieden stark ausgebildet. Es liegt beim Menschen unterhalb der Okzipitallappen des GroĂhirns in der hinteren SchĂ€delgrube dem Hirnstamm rĂŒckenseits auf.
Das menschliche Kleinhirn ist dem Volumen nach kleiner als das GroĂhirn, hat aber eine deutlich höhere Zelldichte. Beim Erwachsenen macht es mit rund 150 g etwa ein Zehntel des durchschnittlichen Hirngewichts aus, doch enthĂ€lt es mit knapp 70 Milliarden Nervenzellen etwa vier FĂŒnftel, also den GroĂteil aller zentralnervösen Neuronen.[1] Die OberflĂ€che der Kleinhirnrinde ist in feine blattförmige Windungen (Folia cerebelli) gefaltet und entspricht etwa 50â75 % der RindenoberflĂ€che der GroĂhirnhemisphĂ€ren.
Das Kleinhirn erfĂŒllt wichtige Aufgaben bei der Steuerung der Motorik: Es ist zustĂ€ndig fĂŒr Koordination, Feinabstimmung, unbewusste Planung und das Erlernen von BewegungsablĂ€ufen. Zudem wird ihm neuerdings eine SchlĂŒsselrolle in der kognitiven Evolution des Menschen zugeschrieben und in absoluter GröĂe und relativ zur NeokortexgröĂe nahm es zu.[2]
Evolution
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Menschen und andere Affen wichen signifikant von dem allgemeinen evolutionĂ€ren Trend ab, dass Neocortex und Kleinhirn sich gemeinsam verĂ€nderten, und hatten im VerhĂ€ltnis zur GröĂe des Neokortex ein signifikant gröĂeres Kleinhirn als andere menschenĂ€hnliche Primaten.[3]
Lage
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Das Kleinhirn liegt in der hinteren SchĂ€delgrube. Es ist dem Hirnstamm (Mittelhirn, der BrĂŒcke und dem verlĂ€ngerten Mark) rĂŒckenseitig (dorsal) aufgelagert und mit diesem ĂŒber drei Kleinhirnstiele (Pedunculus cerebellaris inferior, medius und superior) auf jeder Seite verbunden, durch welche die Faserverbindungen verlaufen. Nach oben und unten spannen sich zum Hirnstamm dĂŒnne Strukturen aus weiĂer Substanz aus, das obere und untere Marksegel (Velum medullare superius und inferius, bei Tieren craniale und caudale).
Zwischen Kleinhirn und Hirnstamm, also bauchseitig (ventral), begrenzt von Medulla oblongata und Pons, seitlich von den Kleinhirnstielen, dorsal von den Marksegeln und dem Kleinhirn, liegt einer der mit Liquor gefĂŒllten HohlrĂ€ume des Gehirns, der vierte Ventrikel, dessen Boden als Rautengrube (Fossa rhomboidea) bezeichnet wird.
Das Kleinhirn wird nach oben (bei anderen Tieren nach vorn) vom Kleinhirnzelt (Tentorium cerebelli), einer Duplikatur der Dura mater, vom GroĂhirn getrennt, dessen Okzipitallappen direkt darĂŒber (bei Tieren davor) liegt. Das Kleinhirn liegt in der hinteren SchĂ€delgrube, wo es mit den beiden als Kleinhirntonsillen bezeichneten FortsĂ€tzen nach ventral bis kurz vor das Foramen magnum reicht.
Im Bereich zwischen dem Kleinhirn und dem Unterrand des ventral davor liegenden Pons (KleinhirnbrĂŒckenwinkel) treten nach schrĂ€g ventral die beiden Hirnnerven Nervus facialis und Nervus vestibulocochlearis aus. Hier können von der HĂŒlle des Nervus vestibulocochlearis ausgehend KleinhirnbrĂŒckenwinkeltumore (Akustikusneurinome) entstehen.
Aufbau
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Beim Kleinhirn bezeichnet man wie beim GroĂhirn die nach auĂen gewandte, nervenzellhaltige Schicht als Rinde (Cortex), die im Inneren liegende weiĂe Substanz (nur Faserverbindungen, keine Zellleiber) als Mark (Medulla). Im Mark zu findende Ansammlungen von Nervenzellen sind Kerne.
Makroskopisch gliedert sich das Kleinhirn in zwei Teile:
- Der Wurm (Vermis) ist eine in der Mitte liegende, etwa ein bis zwei Zentimeter breite, sagittal einmal ganz herumlaufende Struktur,
- die zwei HemisphĂ€ren wölben sich beiderseits des Wurms vor. Sie sind in jeder Richtung gröĂer und breiter als der Wurm.
ZusÀtzlich findet sich vorne unten, an der dem Hirnstamm zugewandten Seite, vom Wurm ausgehend, zu jeder Seite ein armÀhnlicher AuslÀufer, der wie mit zwei Tatzen endet. Das ist der Flocculus, der zusammen mit dem angrenzenden Wurmteil, dem Nodulus, zum sowohl funktionell als auch entwicklungsgeschichtlich deutlich abgrenzbaren Lobus flocculonodularis zusammengefasst wird.
Deutlich sichtbar ist die Kleinhirnrinde in regelmĂ€Ăigem Abstand von fast parallel laufenden Furchen durchzogen. Sie dienen wie die Windungen (Gyri) des GroĂhirns der OberflĂ€chenvergröĂerung, verlaufen aber immer transversal (von links nach rechts) und verleihen dem Kleinhirn sein charakteristisches Aussehen. Im Querschnitt Ă€hnelt diese aufgefaltete Anordnung einem Baum (Arbor vitae, Lebensbaum), entsprechend bezeichnet man einen zwischen zwei Furchen vorgewölbten Rindenabschnitt als Folium (lat. fĂŒr Blatt).
Sowohl den Wurm als auch die HemisphĂ€ren kann man, einmal herumlaufend, in zahlreiche Abschnitte unterteilen, die aber wenig funktionelle Aussage haben. Lediglich die transversale Einteilung in einen oberen Lobus anterior und einen gröĂeren, unteren Lobus posterior wird hĂ€ufiger verwendet.
Im Mark des Kleinhirns unterscheidet man auf jeder Seite vier Kerne, von innen nach auĂen:
- Nucleus fastigii
- Nucleus globosus (oft zweigeteilt)
- Nucleus emboliformis
- Nucleus dentatus.
Die Nuclei dentati sind sehr viel gröĂer als die anderen Kerne und auch stammesgeschichtlich am jĂŒngsten. Nucleus globosus und emboliformis werden zusammen auch als Nucleus interpositus bezeichnet.
Nervenzelltypen der Rinde
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Die Rinde lĂ€sst sich in drei Schichten einteilen, die jeweils eine charakteristische Auswahl der fĂŒnf verschiedenen Zelltypen enthalten:
- Molekularschicht, Stratum moleculare, ganz auĂen
- Sternzellen (GABAerg, inhibitorisch)
- Korbzellen (GABAerg, inhibitorisch)
- Purkinjezellschicht, Stratum purkinjense
- Purkinjezellen (GABAerg, inhibitorisch)
- Körnerschicht, Stratum granulosum, nach innen
- Körnerzellen (Glutamaterg, erregend)
- Golgizellen (GABAerg, inhibitorisch).
Die kleinhirntypische Zelle ist die Purkinjezelle, die als einzige aus der Kleinhirnrinde herausprojiziert. Sie hemmt die Kleinhirnkerne, welche wiederum die zentrale Ausgangsstation des gesamten Kleinhirns darstellen. Sie hat einen klassischen birnenförmigen Zellleib mit einem basalen Axon und einem apikalen PrimĂ€rdendriten, der sich baumartig verzweigt. Die Verzweigung dieses Dendritenbaumes ist streng in einer Ebene (tangential zur LĂ€ngsachse der Folia) ausgerichtet, weshalb die Anordnung der Purkinjezellen hĂ€ufig mit Spalierobst verglichen wird. Die Dendriten ziehen weit in die Molekularschicht bis kurz unter die KleinhirnoberflĂ€che. Sie sind extrem stark bedornt (stĂ€rker noch als die Pyramidenzellen der GroĂhirnrinde) und gehen demnach eine Vielzahl synaptischer Verbindungen mit anderen Neuronen innerhalb und auĂerhalb des Kleinhirns ein. Sie ist die einzige Calbindin-positive Zelle des Kleinhirns.
Die andere typische Zelle der Kleinhirnrinde ist die Körnerzelle, als einzige exzitatorische Zelle der Kleinhirnrinde. Die kleinen, runden Zellkörper liegen dicht und in groĂer Zahl in der Körnerschicht. Das Axon verlĂ€uft nach oben in die Molekularschicht, spaltet sich dort T-förmig auf und verlĂ€uft als Parallelfaser lĂ€ngs der Kleinhirnwindungen und somit senkrecht durch die DendritenbĂ€ume der Purkinjezellen. Die ungewöhnliche Form des Körnerzellaxons lĂ€sst sich durch ihre Wanderungsbewegung wĂ€hrend der Entwicklung erklĂ€ren, die weiter unten beschrieben wird. Die basalen Dendriten der Körnerzellen bilden mit den basalen Axonen der Golgizellen kleine Geflechte in der Körnerschicht, die Glomeruli cerebellares, an denen auch die extracerebellĂ€ren Moosfasern (s. u.) endigen.
Die hemmenden (inhibitorischen) Interneurone der Kleinhirnrinde sind von basal nach apikal:
- Die Golgizelle liegt neben der Körnerzelle in der Körnerschicht. Ihre Axone ziehen zu den Glomerula cerebellaria, wo sie die Körnerzellen hemmen. Ihr bedornter Dendritenbaum ist, im Gegensatz zur Purkinjezelle, buschförmig und reicht ebenfalls bis in die Molekularschicht, wo Verbindungen mit den Parallelfasern eingegangen werden.
- Die Korbzellen liegen tief in der Molekularschicht in der NÀhe der Purkinjezellen, deren Zellleiber sie mit ihren Axonen umspinnen, um die Purkinjezelle am Initialsegment des Axons zu hemmen. Ihre Dendriten stehen in Verbindung mit Kollateralen der Purkinjezellen und mit den Parallelfasern. Jede Korbzelle hat ein immenses Territorium, sodass eine Korbzelle ungefÀhr 70 Purkinjezellen hemmen kann.
- Die Sternzellen liegen apikal in der Molekularschicht und ziehen mit ihren Axonen zu den glatten (nicht bedornten) Dendritenabschnitten der Purkinjezellen.
ZusÀtzlich zu den FortsÀtzen der Zellen des Kleinhirns befinden sich in der Kleinhirnrinde noch zwei verschiedene Fasertypen, die beide erregend sind:
- Moosfasern entstammen dem RĂŒckenmark und vielen Kernen des Hirnstamms. Sie endigen an den Glomerula cerebellaria, wo sie die Körnerzellen und somit indirekt die Purkinjezellen erregen. Ihren Namen erhalten die Moosfasern aus ihrer Verbindung mit den Glomerula cerebellaria, die das Stratum granulosum der Kleinhirnrinde im mikroskopischen Bild wie einen vermoosten Rasen erscheinen lassen. Sie verwenden Glutamat als Transmitter.
- Kletterfasern kommen aus dem unteren Olivenkomplex und âkletternâ (daher der Name) an den DendritenbĂ€umen der Purkinjezellen hoch, wo sie mit den Dornen der Dendriten erregende synaptische Verbindungen eingehen. Einige Quellen sprechen hier von AsparaginsĂ€ure als Transmitter,[5][6] andere von Glutamat.[7]
Verschaltung
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(+) exzitatorische Synapse
(â) inhibitorische Synapse
ZKK Zentrale Kleinhirnkerne
PjZ Purkinjezelle
GgZ Golgi-Zelle, KnZ Körnerzelle
KbZ Korbzelle, StZ Sternzelle
KF Kletterfaser, MF Moosfaser, PF Parallelfaser
Trotz der vielen verschiedenen Zelltypen ist das Verschaltungsprinzip der Kleinhirnrinde relativ einfach. Die Aufgabe des Kleinhirns ist vor allem eine Feinabstimmung der Motorik, sprich eine Hemmung ĂŒberschwĂ€nglicher âGrobmotorikâ. Die Informationen ĂŒber den Bewegungsplan werden der Kleinhirnrinde ĂŒber die Kletterfasern und Moosfasern zugeleitet (die nebenbei Kollateralen an die Kleinhirnkerne abgeben). Die âErgebnisseâ der Kleinhirnarbeit werden ĂŒber die Projektionen der Kleinhirnkerne aus dem Kleinhirn herausgeleitet.
Der grobe Bewegungsplan wird durch die erregenden Kletter- und Moosfasern (hier indirekt ĂŒber die Glomerula cerebellaria und die Körnerzellen) zur Purkinjezelle gebracht, deren Aufgabe nun die Hemmung ĂŒberschwĂ€nglicher Motorik ist. Das Ergebnis ist eine absolute Hemmung, sprich keine Motorik. Aufgrund dessen wird nun die Purkinjezelle wiederum selektiv von den Golgizellen, Korbzellen und Sternzellen gehemmt, so dass nun eine feinmotorische Bewegung zu den Kleinhirnkernen und damit aus dem Kleinhirn herausgeschickt wird. Sprich, die Purkinjezelle wird von auĂerhalb erregt und hemmt die Kleinhirnkerne, wobei sie selber auch selektiv gehemmt wird, damit ĂŒberhaupt Bewegung stattfindet.
Neben den geschilderten klassischen Verschaltungen der Rinde finden sich auch monoaminerge Afferenzen aus der Formatio reticularis, insbesondere mit dem Transmitter Serotonin aus den Raphe-Kernen und mit dem Transmitter Noradrenalin aus dem Locus caeruleus. Sie scheinen eher modulatorische Aufgaben zu besitzen.
Gliazellen in der Rinde
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Neben den im gesamten ZNS verbreiteten Oligodendrozyten, Astrozyten und Mikroglia finden sich in der Kleinhirnrinde zusÀtzlich drei spezielle Gliazelltypen:
- FlĂŒgelastrozyten haben FlĂŒgel- oder Schaufel-förmige FortsĂ€tze, mit denen sie die Glomerula cerebellaria umgeben.
- Die Bergmann-Glia liegt zwischen den Purkinjezellen im Stratum purkinjense. In der Entwicklung des Kleinhirns dienen diese Zellen den auf- und abwandernden Neuronen als Leitstruktur. Im erwachsenen Kleinhirn bilden sie die Membrana gliae limitans superficialis.
- Die gefiederten Glia von Fañanas[8], die im Stratum moleculare sowie Stratum purkinjense[9] liegen und sich histologisch nur mit einer speziellen Gold-FÀrbung darstellen lassen. Man unterscheidet dabei nach der Zahl der AuslÀufer 3 Typen: Fañanas-Zellen mit einem, mit zwei und mit mehreren AuslÀufern.
Bahnen
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]EingÀnge und AusgÀnge des Kleinhirns sind eng mit den jeweiligen Funktionen verwoben, die weiter unter besprochen werden.
Afferenzen
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]FĂŒr die Bewegungskoordination und -durchfĂŒhrung nötige Informationen kommen aus RĂŒckenmark und Hirnstamm:
- Informationen ĂŒber Beschleunigung und die Lage des Kopfes aus den Hirnstammkernen des Gleichgewichtsorgans (Tractus vestibulocerebellaris)
- ĂŒber das RĂŒckenmark direkt Informationen ĂŒber Lage und Stellung der ExtremitĂ€ten von Muskelspindeln, Gelenkrezeptoren und Golgi-Sehnenorganen (Kleinhirnseitenstrangbahn, Tractus spinocerebellaris anterior und posterior)
- aus der Olive (Tractus olivocerebellaris) Information ĂŒber die gerade im Augenblick zur Muskulatur laufenden Impulse des Motorkortex und anderer Areale, ĂŒber vom Kleinhirn selbst ausgesandte Impulse (RĂŒckkopplungsschleife ĂŒber den Nucleus ruber, der zur Olive projiziert) und ĂŒber verschiedene Informationen aus dem Hirnstamm.
FĂŒr die Planung von Bewegungen und â falls die Hypothesen zutreffen â auch die DurchfĂŒhrung zahlreicher weiterer kognitiver Prozesse erhĂ€lt das Kleinhirn zufĂŒhrende Fasern aus dem Cortex (Tractus corticopontocerebellaris). Diese Afferenzen stammen vor allem aus dem Frontal- und dem Temporallappen, zu kleinen Teilen auch aus Parietal- und Okzipitallappen. Sie verlaufen durch den Pons, den sie mit ihren Fasermassen im Wesentlichen bilden, kreuzen dort auf die Gegenseite, werden in den verstreuten pontinen Kernen umgeschaltet und verlaufen durch den breiten mittleren Kleinhirnstiel zu ihrem Ziel.
Detaillierte Betrachtung
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Die pontinen Afferenzen bilden in ihrer Gesamtheit den Pedunculus cerebellaris medius. Als einzige afferente Bahn verlÀuft der Tractus spinocerebellaris anterior im Pedunculus cerebellaris superior, alle anderen genannten Afferenzen verlaufen im unteren Kleinhirnstiel.
Im Tractus vestibulocerebellaris laufen nicht nur sekundÀre Fasern, die in den Vestibulariskernen umgeschaltet wurden, sondern auch direkte Fasern aus dem Gleichgewichtsorgan. Neben dem Lobus flocculonodularis enden Teile der Bahn auch im Ncl. fastigii und der Uvula, einem Teil des Wurms.
Die Tractus spinocerebellaris anterior und posterior leiten im Wesentlichen nur Informationen aus der unteren ExtremitĂ€t. FĂŒr die obere ExtremitĂ€t gibt es zwei analoge Bahnen. Anteile der Hinterstrangbahn, die in einem Teil des Ncl. cuneatus im Hirnstamm verschaltet werden, dem Ncl. cuneatus accessorius, laufen als Tractus cuneocerebellaris zum Kleinhirn und entsprechen der posterioren Kleinhirnseitenstrangbahn. Analog zur anterioren Bahn gibt es ab dem Zervikalmark noch einen Tractus spinocerebellaris superior. Die posteriore Bahn leitet eher die hochaufgelöste Propriozeption, die Information aus der anterioren Bahn kommt eher von gröĂeren rezeptiven Feldern.
Propriozeption aus dem Gesichtsbereich verlÀuft aus den Trigeminuskernen im Hirnstamm als Tractus trigeminocerebellaris zum Kleinhirn.
Efferenzen
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Alle Efferenzen gehen von den Kleinhirnkernen aus (mit Ausnahmen einiger direkter Bahnen vom Lobus flocculonodularis zu den Vestibulariskernen). Das Kleinhirn sendet zu vier Hirnregionen Fasern aus:
- Thalamus
- Nucleus ruber
- Formatio reticularis
- Vestibulariskerne, die Hirnstammzentren des Gleichgewichtsorgans.
Alle vier Bahnen haben Bedeutung fĂŒr die Steuerung der Motorik: Die drei letztgenannten Hirngebiete senden eigene Bahnen zum RĂŒckenmark. Zudem lĂ€uft ĂŒber den Nucleus ruber die oben erwĂ€hnte RĂŒckkopplungsschleife zur Olive und zurĂŒck zum Kleinhirn.
GrundsĂ€tzlich werden alle zum Cortex des GroĂhirns laufenden Bahnen im Thalamus umgeschaltet, auch die des Kleinhirns. Der Thalamus dient hier als Integrationszentrum fĂŒr Impulse auch aus anderen motorischen Zentren (Basalganglien, Cortex selbst) und leitet die integrierten Impulse zu motorischen Cortexarealen, vor allem zum primĂ€r-motorischen Cortex weiter. Es konnte aber gezeigt werden, dass die Kleinhirnefferenzen nicht auf motorische Cortexareale beschrĂ€nkt sind.
Detaillierte Betrachtung
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Die Bahn zu den Vestibulariskernen, die erregende Fasern aus den Ncll. fastigii und â als einzige Ausnahme â auch hemmende Fasern direkt aus der Rinde des Lobus flocculonodularis sendet, verlĂ€uft im unteren Kleinhirnstiel. Alle anderen Efferenzen verlaufen im oberen Kleinhirnstiel, kreuzen dann (Decussatio pedunculorum cerebellarium superiorum, Wernekinck) und spalten sich in einen auf- und einen absteigenden Teil auf.
Der kleinere, absteigende Teil lÀuft zur Formatio reticularis des Hirnstamms. Die Fasern stammen aus den Ncll. fastigii und globosi. Im aufsteigenden Teil verlaufen die oben geschilderten Bahnen zum Thalamus, Tractus cerebellothalamicus, und die Projektionen zum Ncl. ruber, Tractus cerebellorubralis.
Die aus den Ncll. globosus und emboliformis stammenden Anteile der cerebellorubralen Bahn enden in einem Teil des Ncl. ruber (Pars magnocellularis), der selbst direkt und indirekt ĂŒber die Formatio reticularis absteigende Bahnen ins RĂŒckenmark entsendet. Die Anteile des Tractus cerebellorubralis aus dem Ncl. dentatus enden in dem Bereich (Pars parvocellularis), der ĂŒber die zentrale Haubenbahn mit dem Olivenkern verbunden ist und so die oben erwĂ€hnte RĂŒckkopplungsschleife bildet. Auch der Tractus cerebellothalamicus entsteht aus Fasern aus diesen drei Kernen, Ncll. globosus, emboliformis und dentatus.
Gliederung
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Nach verschiedenen Kriterien lĂ€sst sich das Kleinhirn in jeweils drei bis vier Abschnitte einteilen. Am naheliegendsten ist die Einteilung nach anatomischen Abschnitten. Die funktionell bedeutendste und gebrĂ€uchlichste Unterscheidung ist aber die nach den Afferenzen, bei der das Kleinhirn nach der Herkunft der zufĂŒhrenden Bahnen in drei Bereiche eingeteilt wird:
- Das Vestibulocerebellum, anatomisch der Lobus flocculonodularis, ist mit den Vestibulariskernen, den Hirnstammzentren des Gleichgewichtsorgans, verbunden;
- das Spinocerebellum, anatomisch der Wurm und angrenzende Bereiche, empfĂ€ngt u. a. Informationen ĂŒber Körperstellung aus dem RĂŒckenmark;
- das Pontocerebellum, anatomisch den seitlichen HemisphĂ€ren entsprechend, empfĂ€ngt die Fasern, die ĂŒber die BrĂŒcke (Pons) aus dem GroĂhirn kommen.
HĂ€ufig synonym gebraucht ist die Einteilung nach der Phylogenese, die sich nach der stammesgeschichtlichen Entwicklung des Kleinhirns richtet:
- Das Archicerebellum (entspricht dem Vestibulocerebellum) ist der evolutionsgeschichtlich Àlteste, bei allen Wirbeltieren vorhandene Teil des Kleinhirns,
- das PalĂ€ocerebellum (entspricht dem Spinocerebellum), stellt den mit der Entwicklung von GliedmaĂen verbundenen nĂ€chsten evolutionĂ€ren Schritt dar, wĂ€hrend
- das Neocerebellum (Pontocerebellum) den Anforderungen an komplexe BewegungsablÀufe geschuldet ist und nur bei höheren SÀugern vorhanden bzw. in Ausmaà und Umfang der Faserverbindungen bei Primaten und dann beim Menschen einzigartig ist.
Ein weiteres mögliches Kriterium unterteilt das Kleinhirn nach den Kleinhirnkernen, in die die jeweiligen Abschnitte projizieren. Dadurch wird das Spinocerebellum in zwei funktionell unterschiedliche Gebiete unterteilt.
Auch wenn die oben genannten Einteilungen nach den verschiedenen Kriterien synonym gebraucht werden, so sind doch die beschriebenen Gebiete fast nie völlig deckungsgleich. Ausnahme ist das Vestibulocerebellum â Archicerebellum â Lobus flocculonodularis, wo die Ăbereinstimmung weitgehend vorhanden ist. In den anderen Gebieten kann man oft nur eine Ăberschneidung in der GröĂenordnung von achtzig Prozent feststellen.
| Afferenzen | Phylogenese | Anatomie | Efferenzen | Anatomie (andere Richtung) |
|---|---|---|---|---|
| Vestibulocerebellum | Archicerebellum | Lobus flocculonodularis | Nucleus fastigii und direkt zu den Vestibulariskernen | Lobus flocculonodularis |
| Spinocerebellum | PalÀocerebellum | Vermis | Nucleus fastigii | Lobus anterior |
| mediale HemisphÀren (auch paravermale oder intermediÀre Zone) | Nucleus globosus und Nucleus emboliformis | |||
| Pontocerebellum | Neocerebellum | laterale HemisphÀren | Nucleus dentatus | Lobus posterior |
Blutversorgung
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Die Durchblutung des Cerebellums erfolgt ĂŒber drei paarig angelegte Arterien, diese sind von dorsal nach frontal die Arteria cerebelli posterior inferior (PICA), die Arteria cerebelli anterior inferior (AICA) sowie die Arteria cerebelli superior (SCA). Die Arteria cerebelli posterior inferior entspringt dabei als einzige der drei aus der Arteria vertebralis, sie ist nebenbei deren gröĂter Abgang. Die Arteria cerebelli anterior inferior und die Arteria cerebelli superior sind dagegen AbgĂ€nge der Arteria basilaris. Diese etwa 3 bis 3,5 cm lange Arterie entsteht auf dem Clivus der SchĂ€delbasis aus dem Zusammenschluss der rechten und linken Arteria vertebralis, etwa im Ăbergangsbereich zwischen Medulla oblongata und Pons.
Jede Arterie steuert dabei zunĂ€chst einen bestimmten Teil des Cerebellums an: So kommt die SCA auf der superioren OberflĂ€che an, die PICA posterior-inferior und frontal von dieser, also anterior-inferior, die AICA. Alle Lagebezeichnungen beziehen sich auf das Cerebellum an sich, der kaudale Teil wird also von zwei Arterien angesteuert, der kraniale von einer. Die Ăste der drei Arterien anastomosieren schlieĂlich in der Pia mater und stellen so die Blutversorgung des Cerebellums sicher.
Funktion
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Gut untersucht und allgemein anerkannt ist die Rolle des Kleinhirns fĂŒr Planung, Koordination und Feinabstimmung von Bewegungen, wobei die unterschiedlichen Abschnitte auch verschiedene Funktionen ĂŒbernehmen. Auch bei LernvorgĂ€ngen wird dem Kleinhirn eine wichtige Rolle zugeschrieben. Zudem werden seit einiger Zeit Thesen ĂŒber die Rolle des Kleinhirns bei kognitiven Prozessen diskutiert.
Motorik
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Vestibulocerebellum
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Dieser Kleinhirnteil erhĂ€lt aus dem Gleichgewichtsorgan Informationen ĂŒber Körperlage und -bewegung. Diese nutzt er zum einen zur Steuerung der Halte- und StĂŒtzmotorik. Zum anderen ist er verantwortlich fĂŒr die Feinabstimmung fast aller Augenbewegungen, die von den verschiedenen okulomotorischen Zentren im Hirnstamm generiert werden.
Spinocerebellum
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Das Spinocerebellum empfĂ€ngt die Afferenzen aus dem RĂŒckenmark, die Informationen ĂŒber die Stellung von Gelenken und Muskeln geben. AuĂerdem erhĂ€lt es kontinuierliche RĂŒckmeldung ĂŒber die zum RĂŒckenmark und damit in die Peripherie gesendeten Bewegungssignale. Es gliedert sich nach den Efferenzen in zwei funktionell unterschiedliche Zonen. Der Vermis selbst, der in den Nucleus fastigii projiziert, ist vor allem fĂŒr Stand-, Gang- und StĂŒtzmotorik verantwortlich. Die angrenzenden HemisphĂ€renanteile (intermediĂ€re Zone, Projektion in Nucleus globosus und Nucleus emboliformis) sind entscheidend beteiligt an der Zielmotorik und der BewegungsdurchfĂŒhrung. Diese Anteile sorgen dafĂŒr, dass eine Bewegung wie geplant ablĂ€uft, ihr Ziel exakt trifft, und sie sorgen fĂŒr einen Abgleich von Efferenzen und Afferenzen, also dafĂŒr, dass die gesendeten Kommandos der tatsĂ€chlichen augenblicklichen Lage der ExtremitĂ€ten entsprechen und stĂ€ndig fein an die neue Lage angepasst werden. Hierunter fĂ€llt auch die fĂŒr das Sprechen notwendige auĂerordentlich feine Abstimmung der beteiligten mimischen und Kehlkopfmuskulatur.
Pontocerebellum
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Das Pontocerebellum (auch Cerebrocerebellum) ist funktionell mit dem GroĂhirnkortex verbunden. Es empfĂ€ngt Signale aus vielen Bereichen, vor allem den prĂ€motorischen Zentren im Frontallappen (prĂ€motorischer Cortex und supplementĂ€rmotorischer Cortex). Dort entstehen BewegungsentwĂŒrfe, die Planung einer Bewegung. Diese eher groben EntwĂŒrfe werden zu den lateralen KleinhirnhemisphĂ€ren gesendet, wo sie weiter entwickelt, fein abgestimmt, moduliert, korrigiert, mit aus Vorerfahrungen gewonnenen internen Modellen abgeglichen werden und die geplante AktivitĂ€t der beteiligten Muskeln koordiniert wird. Hierbei hilft auch der RĂŒckkopplungskreis ĂŒber den Nucleus ruber und die Olive zurĂŒck zum Kleinhirn. Die Ergebnisse dieser Berechnungen gehen zum Thalamus, wo sie (mit den Ergebnissen des anderen groĂen subkortikalen motorischen Zentrums, der Basalganglien) integriert und zum motorischen Cortex weitergeleitet werden.
LernvorgÀnge
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Das Kleinhirn spielt eine SchlĂŒsselrolle beim impliziten Lernen und damit fĂŒr das prozedurale GedĂ€chtnis. Das bedeutet, dass gut trainierte, automatisierte BewegungsablĂ€ufe ohne ein Nachdenken abrufbar sind, da ihre Wiederholung zu anhaltenden VerĂ€nderungen synaptischer Effizienzmuster im Kleinhirn gefĂŒhrt hat. Beispiele dafĂŒr sind die Koordination der Gesichtsmuskulatur beim Sprechen und die Bewegung der Finger beim Schreiben oder Spielen von Musikinstrumenten, aber auch die Koordination des gesamten Körpers wie beim Skifahren oder Tanzen.
Das Kleinhirn ist darĂŒber hinaus ein Ort assoziativen Lernens. Das am besten untersuchte Beispiel hierfĂŒr ist die Konditionierung des Lidschlussreflexes, welcher z. B. beim Einsetzen von Kontaktlinsen eine Rolle spielt.[10]
Kognitive Prozesse
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Seit den achtziger Jahren wird vermehrt diskutiert, dass das Kleinhirn auch an zahlreichen kognitiven Prozessen beteiligt ist. Es werden unter anderem folgende Argumente aufgefĂŒhrt:
- Die HemisphĂ€ren des Kleinhirns sind beim Menschen so ausgeprĂ€gt wie bei keiner anderen Spezies. Evolutionsgeschichtlich geht das Wachstum des GroĂhirns, in dem die auĂerordentlichen kognitiven FĂ€higkeiten des Menschen angesiedelt werden, direkt einher mit dem Wachstum der HemisphĂ€ren und des Nucleus dentatus.
- Das Kleinhirn empfĂ€ngt ĂŒber die pontinen Fasern eine gewaltige Menge an Informationen. Diese StrĂ€nge umfassen 200 Millionen Nervenfasern, wĂ€hrend der Nervus opticus zum Beispiel, der die Informationen aus der Netzhaut des Auges bringt und damit gute Teile des GroĂhirns beschĂ€ftigt, nur etwa 1 Million Nervenfasern umfasst.
- Man konnte zeigen, dass die Efferenzen des Kleinhirns nicht etwa nur zu motorischen Cortexarealen gelangen, sondern auch zu vielen anderen Bereichen des Cortex.
- Es gibt KleinhirnlĂ€sionen im Bereich des Lobus posterior, die zu keinerlei klinischen AuffĂ€lligkeiten bei der Bewegungskoordination fĂŒhren.
- Funktionelle Untersuchungen mit modernen bildgebenden Verfahren konnten eine Aktivierung des Kleinhirns bei kognitiven Aufgaben zeigen.
Nach einer anderen Hypothese ist nur der Lobus anterior wirklich fĂŒr Bewegungskoordination zustĂ€ndig, wĂ€hrend dem unteren Vermis Einfluss auf Affekt und Verhalten zugeschrieben werden. Die linke HemisphĂ€re (verbunden mit der rechten GroĂhirnhemisphĂ€re) spielt eine Rolle im visuell-rĂ€umlichen Denken, die rechte HemisphĂ€re (verbunden mit der linken, sprachdominanten HemisphĂ€re) ist wichtig fĂŒr Sprachfunktionen. Dazu passt, dass Dyslexie hĂ€ufig mit einer BeeintrĂ€chtigung der AktivitĂ€t in der rechten KleinhirnhemisphĂ€re korreliert. Im Gegensatz zum Sprechen, was die Koordination der Sprechmuskulatur verlangt, handelt es sich hier um höhere Funktionen zur Sprachbildung wie zum Beispiel Wortfindung. Beiden HemisphĂ€ren wird zudem allgemein eine Rolle bei den exekutiven Funktionen zugeschrieben.
Dennoch ist noch nicht klar, wie wichtig der Einfluss des Kleinhirns tatsĂ€chlich ist. An einigen Beispielen wird das Problem deutlich: Bei Untersuchungen mit bildgebenden Verfahren ist es nicht möglich, KleinhirntĂ€tigkeit zur Bewegungskoordination völlig auszuschlieĂen. Gerade beim Sprechen wird das Kleinhirn tĂ€tig, so dass Aussagen ĂŒber Sprachfunktionen schwierig sind. Auch gab es widersprĂŒchliche Experimente. Bei Patienten mit KleinhirnlĂ€sionen lassen sich zwar kognitive VerĂ€nderungen nachweisen. Diese sind aber nie wirklich schwerwiegend und es bleibt die Frage, ob nicht doch die motorischen Defizite der eigentliche Grund sind. Bei wirklich schwerwiegenden KleinhirnlĂ€sionen ist eine kognitive PrĂŒfung aufgrund der schweren motorischen Defizite wiederum fast nicht möglich.
Entwicklung
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Entwicklung der Ă€uĂeren Form
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Das Kleinhirn entsteht aus dem Metencephalon, dem vierten HirnblĂ€schen. Zwischen Metencephalon und Myelencephalon liegt die durch die Absenkung der BrĂŒckenbeuge in der sechsten Woche ausgedehnte Rautengrube. Die Anlage des Kleinhirns entwickelt sich zu diesem Zeitpunkt im rostralen, dem Mesencephalon zugewandten Teil des Dachs der Rautengrube. Die ganz dorsolateralen Bereiche der FlĂŒgelplatte krĂŒmmen sich nach medial und bilden die Rautenlippen.
Kaudal werden die Rautenlippen beider Seiten von der Deckplatte, des sehr dĂŒnnen Dachs der Rautengrube, getrennt, nach kranial laufen sie aber aufeinander zu und vereinigen sich direkt unterhalb des Mesencephalon.
Durch weitere Wachstumsbewegungen, Absenkung der BrĂŒckenbeuge, Wachstum und Vorwölben der Rautenlippen nach dorsal verĂ€ndert sich ihre Form zu einer transversal gestellten Platte, der Kleinhirnplatte.
In seitlicher Richtung lassen sich nach zwölf Wochen medial der Vermis und lateral die HemisphÀren unterscheiden. In LÀngsrichtung werden als Erstes der Nodulus und der Flocculus durch einen Spalt von Vermis und HemisphÀren abgetrennt. Im Verlaufe des weiteren Wachstums treten nach und nach die restlichen charakteristischen Querfurchen auf.
Entwicklung der Rinde
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Im frĂŒhen Stadium besteht die Kleinhirnanlage wie alle anderen Abschnitte des Neuralrohrs aus einem innen liegenden Neuralepithel mit teilungsaktiven Zellen, einer Mantelschicht mit aus dem Neuralepithel hervorgegangenen und nach auĂen gewanderten Proneuronen und einer Marginalzone, die hauptsĂ€chlich ZellfortsĂ€tze enthĂ€lt.
In der Embryonalzeit wandert ein erster Schub von Zellen aus. In der Mantelschicht entstehen aus einem Teil dieser Zellen die Kleinhirnkerne. Der andere Teil erreicht die Marginalzone und bildet dort die Ă€uĂere Körnerschicht. Diese Schicht ist typisch fĂŒr die Entwicklung des Kleinhirns. Ihre Zellen bleiben im Gegensatz zur Entwicklung der ĂŒbrigen Gehirnabschnitte noch bis nach der Geburt teilungsfĂ€hig, tatsĂ€chlich entstehen hier noch bis zum Ende des zweiten Lebensjahres neue Nervenzellen.
Im vierten Monat treten zwei wichtige Entwicklungsschritte auf. Ein zweiter Schub an Zellen wandert aus und erreicht die Ă€uĂere Körnerschicht, bleibt aber auf ihrer Innenseite. Es handelt sich um die VorlĂ€ufer der Purkinje-Zellen. AuĂerdem beginnt nun die Differenzierung der Ă€uĂeren Körnerschicht. Aus dieser zellreichen Schicht entsteht nach der Geburt die zellarme Molekularschicht, die Ă€uĂerste Schicht der Kleinhirnrinde, mit ihren Korb- und Sternzellen. Aber es entstehen aus den Zellen der Ă€uĂeren Körnerschicht auch die Körnerzellen, die Zellen der inneren Körnerschicht.
Die Zellwanderung im ZNS erfolgt normalerweise von innen nach auĂen, wobei die Körnerzelle des Kleinhirns hier eine wichtige Ausnahme bildet. Sie wandert tangential unterhalb der OberflĂ€che des Kleinhirns aus der Rautenlippe ein und bildet auf jeder Seite einen Fortsatz aus, der parallel zum Folium und somit senkrecht zum spĂ€teren Dendritenbaum der Purkinjezellen ausgerichtet ist. Nun geht sie in Verbindung mit dem Fortsatz der sog. Bergmann-Gliazelle, an der die anderen Zellen von innen nach auĂen auswandern, und klettert unter die Purkinjezellschicht, wobei sich die beiden FortsĂ€tze der Körnerzelle zu einem vereinigen, der nun eine T-Form bekommt. Aufgrund dieser speziellen Histogenese lĂ€sst sich die ungewöhnliche Form des Körnerzellaxons erklĂ€ren, der Parallelfaser (von der Körnerzelle hoch und dann T-förmig parallel zum Folium). In vielen BĂŒchern findet man die Angabe, das Axon wĂŒrde aus der Körnerzellschicht nach oben auswachsen, diese Aussage ist jedoch falsch: Axone wachsen nicht aus, sondern entstehen durch eine Wanderung der jeweiligen Neurone.
Pathophysiologie
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Bei einer SchĂ€digung oder Funktionsstörung des Kleinhirns, etwa durch Tumoren,[11] kann je nach Lage und Ausdehnung des betroffenen Areals eine Reihe von charakteristischen Symptomen auftreten. Die allgemeinste Bezeichnung und Oberbegriff fĂŒr die meisten Kleinhirnsymptome ist die Ataxie.
Im Einzelnen können vorliegen:
- bei LĂ€sionen des Vestibulocerebellums
- durch Störung der Koordination der Augenbewegung ein Nystagmus
- durch mangelnde StĂŒtzmotorik eine Rumpfataxie, die UnfĂ€higkeit, die fĂŒr das Stehen und Sitzen nötigen unbewussten Korrekturbewegungen der Rumpfmuskulatur ausreichend durchzufĂŒhren;
- bei LĂ€sion der medianen (vermalen) Zone des Spinocerebellums
- eine Stand- und Gangataxie, ein unsicherer, wankender Stand und Gang wie beim Betrunkenen.
- Bei LĂ€sion der intermediĂ€ren oder paravermalen Zone des Spinocerebellums steht die mangelnde Kontrolle und Koordination der BewegungsdurchfĂŒhrung im Vordergrund, was sich durch eine Reihe von Symptomen Ă€uĂert:
- Störungen der Zielmotorik: bei Hypermetrie ĂŒber das Ziel hinausschieĂende bzw. bei Dysmetrie am Ziel vorbei treffende Bewegungen, z. B. beim Versuch, mit dem Finger die Nase zu treffen.
- Eng damit verbunden ist das Auftreten eines Intentionstremors, also eines Zitterns, das umso stĂ€rker wird, je nĂ€her die Hand dem Ziel kommt. Es wird durch nicht koordinierte und somit ĂŒberschieĂende Korrekturbewegungen verursacht.
- Die UnfĂ€higkeit, schnell nacheinander und abwechselnd antagonistische Bewegungen durchzufĂŒhren, bezeichnet man als Dysdiadochokinese. Das klassische Beispiel ist der Versuch, die HandflĂ€che schnell auswĂ€rts und einwĂ€rts zu drehen.
- SchlieĂlich verursacht die fehlende Feinabstimmung der komplexen, zum Sprechen nötigen Motorik ein als Dysarthrie bezeichnetes Krankheitsbild, das sich durch eine undeutliche, verwaschene, manchmal unverstĂ€ndliche Sprache auszeichnet. Hier ist aber nur die Sprechmotorik gestört, nicht die höheren sprachverstehenden und -formenden Zentren des Gehirns. Charcot beschreibt die typische cerebellĂ€re Sprache als âskandierendâ.
- Die LĂ€sion des Pontocerebellums betrifft die Bewegungsplanung.
- Es kann zu einer Asynergie kommen, bei der der Einsatz der einzelnen Muskeln nicht aufeinander abgestimmt und somit nicht synergistisch ist. Als Kompensation dieses Defizits kann es zur Dekomposition eines Bewegungsablaufs in Einzelbewegungen kommen, so dass zum Beispiel erst das Schultergelenk in die richtige Lage gebracht, dann der Arm gestreckt und erst dann die Hand bewegt wird, statt das parallel in einem flieĂenden Ablauf durchzufĂŒhren.
Die Rhombencephalosynapsis ist eine seltene Fehlbildung, bei der die beiden KleinhirnhemisphÀren verschmolzen sind und der Wurm unterentwickelt ist. Beim Joubert-Syndrom und verwandten Krankheiten ist der Kleinhirnwurm unterentwickelt und die Kleinhirnstiele sind verdickt.
Siehe auch
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Weblinks
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- Ilka Lehnen-Beyel: Kleinhirn ganz groĂ. Cerebellum hat mehr mit höheren Gehirnfunktionen zu tun als gedacht, ddp/www.wissenschaft.de, 4. Oktober 2005 (Exzerpt aus: Limperopoulos C et al.: Impaired trophic interactions between the cerebellum and the cerebrum among preterm infants, Pediatrics, Bd. 116, Nr. 4, 844â850)
- Kleinhirn auch fĂŒr Kognition wichtig, Medical Tribune Nr. 22/2009
Einzelnachweise
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- â Suzana Herculano-Houzel: The Human Brain in Numbers: A Linearly Scaled-up Primate Brain. In: Front Hum Neurosci. Band 3, Nr. 31, November 2009, S. 1â11, doi:10.3389/neuro.09.031.2009, PMC 2776484 (freier Volltext).
- â Robert A. Barton, Chris Venditti: Rapid Evolution of the Cerebellum in Humans and Other Great Apes Current Biology, Volume 24, Heft 20, 2014, abgerufen am 9. Juli 2022
- â Robert A. Barton, Chris Venditti: Rapid Evolution of the Cerebellum in Humans and Other Great Apes Current Biology, Volume 24, Heft 20, 2014, abgerufen am 9. Juli 2022
- â Linie 11, Berglund et al. 2006, Brain Cell Biology 35, 207â235.
- â Erhard Wischmeyer: Sensomotorik. In: Michael Gekle u. a. (Hrsg.): Taschenlehrbuch Physiologie. Thieme Verlag, Stuttgart 2010, ISBN 978-3-13-144981-8, S. 747 f.
- â Michael SchĂŒnke u. a.: Prometheus Lernatlas der Anatomie. Kopf und Neuroanatomie. 1. Auflage. Thieme Verlag, Stuttgart 2006, ISBN 978-3-13-139541-2, S. 241.
- â Ulrich Welsch: Sobotta Lehrbuch Histologie. 2. Auflage. Urban & Fischer Verlag/Elsevier GmbH, MĂŒnchen 2005, ISBN 978-3-437-42421-2, S. 626.
- â Karl Uwe Petersen: Zur Feinstruktur der Neurogliazellen in der Kleinhirnrinde von SĂ€ugetieren. In: Zeitschrift fĂŒr Zellforschung und Mikroskopische Anatomie. Dezember 1969, S. 613â633.
- â Lakomy M: Glioarchitectonics of the cerebellar cortex and medulla of cows during postnatal development. In: Pol Arch Weter. 1980, S. 433-43.
- â Thompson, R.F., Steinmetz, J.E.: The role of the cerebellum in classical conditioning of discrete behavioral responses. In: Neuroscience, 2009, 162. Jg., Nr. 3, S. 732â755.
- â Vgl. etwa Thomas Grainger Stewart, Gordon Morgan Holmes: Symptomatology of cerebellar tumors: A study of forty cases. In: Brain. Band 27, (London) 1904, S. 522â591.
