Der Leinwandmesser. Die Geschichte eines Pferdes (russisch Холстомер) sind Titel und Untertitel einer in den 1860er Jahren entstandenen und 1885[1] publizierten Erzählung Lew Tolstois, in deren Binnenhandlung ein Pferd von seinem Leben und der Behandlung durch seine Besitzer erzählt. Die erste deutsche Übersetzung von Hermann Roskoschny erschien 1887. (s. Entstehungs- und Publikationsgeschichte)
Inhalt
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Als Binnenerzählung innerhalb eines Erzählrahmens schildert in fünf aufeinanderfolgenden Nächten der Protagonist,[2] der in der deutschen Übersetzung wegen seiner weit ausschreitenden, gleichsam „Leinen durchmessenden Gangart“, „Leinwandmesser“ genannt wird, den jüngeren Artgenossen seine wechselhafte Lebensgeschichte und kommentiert kritisch die Menschen, v. a. seine verschiedenen Besitzer.
Rahmenerzählung
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Der Wallach Leinwandmesser lebt, wenig beachtet von den Menschen und geneckt oder ausgegrenzt von den jüngeren Tieren, als altes Pferd auf einem herrschaftlichen Pferdehof. Er dient den Pferdehirten als Reitpferd, wenn sie die Stuten mit den Fohlen von der Koppel zum Fluss treiben (Kap. 1-4): „[E]s lag etwas Majestätisches in der Gestalt dieses Pferdes sowie in der schrecklichen Vereinigung der abstoßenden Anzeichen des Alters […] diesem Ausdruck von Selbstvertrauen, Schönheit und kraftbewusster Ruhe. Es stand wie eine lebendige Ruine einsam inmitten der taufrischen Wiese, während man unweit davon des Stampfen und Schnauben und das frische Wiehern der umherirrenden Rossherde vernahm.“[3]
Als eines Nachts alle Pferde mit gefletschten Zähnen den Wallach auf dem Hof herumjagen, kommt die allerälteste Stute Wjasopuricha, eine Jugendfreundin aus Chrenowo, zu ihm und seufzt. Das ist das Zeichen für die Herde, sich zu beruhigen und sie hören in den fünf folgenden Nächten schweigend seiner Erzählung zu (Kap. 5)
Leinwandmessers Lebenslauf
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Leinwandmesser kann eine stolze Ahnenreihe vorweisen. Geboren in einem gräflichen Gestüt ist er wegen seines bunten scheckigen Fells zwar bei den Pferden beliebt, aber der General, der Leiter des Betriebs, schließt ihn nach einer Affäre mit der jungen Stute Wjasopuricha von der Zucht aus und lässt ihn kastriert (Kap. 5, erste Nacht, Kap. 6, zweite Nacht). Dieser Eingriff hat eine entscheidende Veränderung zur Folge: Er wird von den Stuten nicht mehr ernst genommen, zieht sich in sich selbst zurück und wird ernst und tiefsinnig.
Er denkt über die Ungerechtigkeit der Menschen nach, die ihn „verurteilten, weil [er] scheckig [ist]“, er denkt „über die Unbeständigkeit der mütterlichen und der weiblichen Liebe überhaupt nach, über ihre Abhängigkeit von den physischen Zuständen, hauptsächlich aber [denkt er] über die Eigenschaften jener merkwürdigen Tierart nach, mit der [sie] so eng verbunden sind und die [sie] Menschen nennen, über jene Eigenschaften, die [seine] besondere Stellung im Gestüt bestimmten, für die [er] wohl ein Gefühl hat[-], die [er] aber nicht verstehen [kann]“.[4] V. a. versteht Leinwandmesser nicht die Bedeutung des Wortes „mein“ für die Menschen, das sie auf Länder und Häuser beziehen, die sie niemals gesehen haben, aber auch auf Frauen, die mit anderen Männern zusammenleben. Sie wollen so viele „Dinge als nur möglich ihr eigen“ nennen. Später erkennt er den Zusammenhang mit „einem niedrigen, menschlich-tierischen Instinkt, der von ihnen Eigentumsgefühl oder Eigentumsrecht genannt wird“ und sieht darin einen Hauptunterschied zwischen den Menschen und den Tieren. Deshalb stehen die Tiere „höher auf der Leiter der Lebewesen […] als die Menschen.“[5]
Das Besitzrecht an Leinwandmesser geht nach der Kastration auf den Stallmeister über. Dieser lässt ihn für den Wagendienst trainieren, verkauft ihn als „Deichselpferd“ an einen Händler und dieser wiederum an den schönen leichtlebigen Fürsten Nikita Sserpuchowskoj (Kap. 7, dritte Nacht). Dem Husaren gefällt Leinwandmessers Kraft und Schnelligkeit und er nutzt ihn als Fahrpferd für seine Kutsche. Bei diesem draufgängerischen Lebemann verbringt der Wallach die besten zwei Jahre seines Lebens. Sein Besitzer wettet gerne mit seinen Freunden, welches ihrer Pferde am schnellsten läuft, und meistens gewinnt Leinwandmesser die Rennen und steht im Mittelpunkt der Bewunderung. Seine schöne Zeit endet, als der Fürst mit ihm in einer Nacht seiner untreuen Geliebten hinterherjagt.
Das Pferd ist durch die Strapaze erschöpft, wird krank und an einen Händler verkauft. Weitere Besitzer sind eine alte Dame, die er bis zu deren Tod in die Kirche fährt, ein Kurzwarenhändler, ein Bauer und ein herumziehender Zigeuner. Sie benutzen Leinwandmesser als Arbeitspferd und wirtschaften ihn herunter. Schließlich kommt er an seinen derzeitigen Aufenthaltsort, den Pferdehof (Kap. 8, vierte und fünfte Nacht).
Erzählrahmen (Schlussteil)
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Ein Tag, nachdem Leinwandmesser seine Erzählung beendet hat und daraufhin von den anderen Pferden wegen seiner Lebensleistung geachtet wird, trifft er seinen ehemaligen Herrn Sserpuchowskoj wieder. Dieser ist zu Besuch bei dem Gutsherrn und seiner schwangeren Mätresse Marie, die einmal die Geliebte des fürstlichen Husaren war und deren Flucht den gesundheitlichen und gesellschaftlichen Abstieg des Pferdes einleitete. Jetzt ist der Gast eine aufgedunsene Militärperson in den vierziger Jahren (Kap. 9 und 10). Er hat sein Vermögen verspielt, ist offenbar „physisch, moralisch und pekuniär heruntergekommen“ und betrachtet voller Neid das Glück des ihn nachsichtig behandelnden Gutshauspaares. Tief verschuldet musste er eine Arbeit suchen und seine einflussreiche Verwandtschaft verschaffte ihm den Posten als „Direktor einer Pferdezucht“.
Der Gutsherr zeigt ihm seine edlen Pferde, doch der Gast interessiert sich wenig dafür und entfaltet unter zunehmendem Alkoholgenuss die einstigen Erfolge seines schnellen scheckischen Wallachs aufschneiderisch zu einem Lügengemälde (Kap. 11), aber auf dem Pferdehof erkennt er den alten Leinwandmesser nicht wieder. Damals hat er nach einem Wettrennen-Sieg die Kaufangebote mit den Worten abgelehnt, Leinwandmesser sei „kein Pferd, sondern [sein] Freund“ und er gebe ihn „für nichts her und wenn es Berge von Gold wären“.[6].
In derselben Nacht reitet der Pferdeknecht auf Leinwandmesser zu einer Kneipe und lässt ihn vor dem Haus neben einem räudekranken Bauernpferd stehen. Leinwandmesser steckt sich an und wird von einem Abdecker getötet (Kap. 12). Im Sterben wird ihm „viel leichter zumute. Die ganze Last des Lebens [wird] plötzlich leichter!“[7] Mit seinem Fleisch ernährt eine Wölfin ihre Kleinen, der Rest verfällt.
„Den auf der Erde wandelnden, essenden und trinkenden Leichnam Sserpuchowskoj bestattete man erst viel später“ in einer schönen Uniform und schönen Stiefeln. „Und wie sein auf der Erde einherwandelnder toter Körper schon zwanzig Jahre lang für alle eine schwere Last war, so war auch sein Begräbnis nur eine überflüssige Mühewaltung für die Menschen.“[8]
Entstehungs- und Publikationsgeschichte
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]1856 erzählte der Pferdezüchter Alexander Stachowitsch Tolstoi die Geschichte von einem gescheckten Traber: Er wurde 1803 in dem Gestüt Chrenowo[9] des Grafen Orlow-Tschesmenskij geboren. Nach dem Stammbaum hieß das Pferd „Mushik I“, seines ausgreifenden Ganges wegen nannte ihn Orlow „Leinwandmesser“. 1812 ließ Orlows Stallmeister das Pferd kastrieren und verkaufte es. Sein weiteres Schicksal ist unbekannt.[10] Der Schriftsteller Michail Stachowitsch plante, die Geschichte in der Erzählung Die Abenteuer des gescheckten Wallachs auszugestalten, durch seinen Tod im Jahr 1858 kam es jedoch nicht dazu.
Aus Memoiren und Tagebüchern ist bekannt, dass Tolstoi 1863 die Informationen Stachowitschs aufgriff und an der Pferdegeschichte arbeitete, sie aber nicht abschloss. 1885 bereitete Sofja Tolstaja die nächste Sammlung von Werken für die Veröffentlichung vor und fand die Entwürfe. Sie überredete ihren Mann zur Wiederaufnahme des Plans und Tolstoi vollendete die Erzählung für den dritten Band der fünften Auflage der gesammelten Werke.[11]
Die erste deutsche Übersetzung von Hermann Roskoschny erschien 1887 in Leipzig. Weitere folgten: u. a. von Hermann Röhl,[12] Raphael Löwenfeld,[13] J. Tönnies,[14] A. v. Jakimow-Kruse,[15] Gisela Drohla,[16] M. Stucken,[17] H. Asemissen[18]
Hörspiel
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Im Jahre 1956 produzierte der NDR Tolstois Erzählung als Hörspiel. Die Funkbearbeitung stammte von Wolfgang Weyrauch, die Musik komponierte Winfried Zillig, und die Regie führte Otto Kurth.
Die Erstsendung fand am 3. Oktober 1956 statt. Das noch erhaltene Hörspiel hat eine Abspieldauer von 48'00 Minuten.
Besetzung: Erwin Kalser (Leinwandmesser), Karen Hüttmann (Pferd), Inge Fabricius (Pferd), Gudrun Thielemann (Pferd), Jo Wegener (Pferd), Hermann Schomberg (Nester), Hanns Ernst Jäger (Nikita), Heinz Sailer (Uralter), Andreas von der Meden (Wassjka), Herbert A. E. Böhme (Stallmeister), Walter Klam (General), Trude Mordo (Dame), Rudolf Fenner, Karl Fleischer, Benno Gellenbeck, Walter Laugwitz, Ingrid Hosse, Reinhold Nietschmann und Clemens Wilmenrod
Theaterstück
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- Das DDR-Fernsehen präsentierte dieses Stück mit einer Inszenierung des Mecklenburgischen Staatstheaters Schwerin, die im Rahmen der XXIV. Berliner Festtage des Theaters und der Musik aufgeführt und aufgezeichnet wurde.
Die Zeitschrift “FF dabei”, Nr. 41/1980, Seite 29, schrieb dazu: “‘ Leinwandmesser’, Titelfigur der Novelle L. N. Tolstois, die Mark Rosowskis ‘Geschichte eines Pferdes’ zugrunde liegt, erzählt vom Schicksal eines Pferdes, das als Synonym für das Leben der geschundenen Kreatur im zaristischen Russland steht. Das nur kurze ‘Glück’ eines Sklavendaseins und das lange Leid, das dem ausgedienten und kranken ‘Leinwandmesser’ von den Artgenossen und von den Menschen widerfährt, fordert die Frage nach dem Recht auf Glück und Liebe des Individuums heraus. Die ungewöhnliche Verkörperung eines Pferdesschicksals durch Schauspieler erfährt in der Schweriner Inszenierung eine sinnlich-poetische Darstellungsweise.”
Weblinks
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Literatur
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- Leinwandmesser. Deutsch von Gisela Drohla. S. 114–164 in: Gisela Drohla (Hrsg.): Leo N. Tolstoj. Sämtliche Erzählungen. Vierter Band. Insel, Frankfurt am Main 1961 (2. Aufl. der Ausgabe in acht Bänden 1982)
- Leo Tolstoi: Meistererzählungen (= Manesse Bibliothek der Weltliteratur). 8. Auflage. Manesse-Verlag, Zürich 1985, ISBN 3-7175-1396-6.
Einzelnachweise
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- ↑ Polnoe sobr. Soč. 12 Bdwe. 1880-1886, Bd. 3.
- ↑ Die meisten internationalen Ausgaben behalten den Originaltitel „Kholstomer“ bei oder ersetzen ihn durch „Läufer“
- ↑ Leo Tolstoi: Der Leinwandmesser. Die Geschichte eines Pferdes. Deutsch von A. v. Jakimow-Kruse. In: Leo Tolstoi: Erzählungen. GGT Bd. 424. Wilhelm Goldmann Verlag, München, 1961, S. 147.
- ↑ Leo Tolstoi: Der Leinwandmesser. Die Geschichte eines Pferdes. Deutsch von A. v. Jakimow-Kruse. In: Leo Tolstoi: Erzählungen. GGT Bd. 424. Wilhelm Goldmann Verlag, München, 1961, S. 159, 160.
- ↑ Leo Tolstoi: Der Leinwandmesser. Die Geschichte eines Pferdes. Deutsch von A. v. Jakimow-Kruse. In: Leo Tolstoi: Erzählungen. GGT Bd. 424. Wilhelm Goldmann Verlag, München, 1961, S. 161.
- ↑ Leo Tolstoi: Der Leinwandmesser. Die Geschichte eines Pferdes. Deutsch von A. v. Jakimow-Kruse. In: Leo Tolstoi: Erzählungen. GGT Bd. 424. Wilhelm Goldmann Verlag, München, 1961, S. 179.
- ↑ Leo Tolstoi: Der Leinwandmesser. Die Geschichte eines Pferdes. Deutsch von A. v. Jakimow-Kruse. In: Leo Tolstoi: Erzählungen. GGT Bd. 424. Wilhelm Goldmann Verlag, München, 1961, S. 179.
- ↑ Leo Tolstoi: Der Leinwandmesser. Die Geschichte eines Pferdes. Deutsch von A. v. Jakimow-Kruse. In: Leo Tolstoi: Erzählungen. GGT Bd. 424. Wilhelm Goldmann Verlag, München, 1961, S. 180.
- ↑ im Dorf Sloboda im Rajon Bobrovsky in der Region Woronesch
- ↑ L. N. Tolstoij: Sämtliche Erzählungen. Dritter Band. Herausgegeben von Gisela Drohla. Insel-Verlag, Frankfurt a. M. 1970, S. 644.
- ↑ Sofia Stachowitsch. Wie ‚Chölstomer‘ geschrieben wurde. In: L. N. Tolstoi / Staatliches Literarisches Museum; Hrsg. von N. N. Gusev. — Moskau: Verlag des Staatlichen Literarischen Museums, 1938. — [Bd. I]. — 487 S. — (Chroniken des Staatlichen Literarischen Museums; Buch 2 / Gesamtherausgeberschaft von W. Bonch-Brujewitsch)
- ↑ Der Leinwandmesser. 1913, Insel Verlag, Leipzig 1966
- ↑ Leinwandmesser In: Leo N. Tolstoi: Gesammelte Novellen. Erster Band. Mit einer Einführung von Raphael Löwenfeld. Eugen Diederichs, Jena 1924, S. 421-483.
- ↑ Der Leinwandmesser. Übersetzer J. Tönnies. In: Ausgewählte Werke, 10, Hamburg 1956.
- ↑ Der Leinwandmesser. Die Geschichte eines Pferdes. Deutsch von A. v. Jakimow-Kruse. In: Leo Tolstoi: Erzählungen. GGT Bd. 424. Wilhelm Goldmann Verlag, München 1957, 1961, S. 141-180.
- ↑ Der Leinwandmesser. In: Leo N. Tolstoj: Sämtliche Erzählungen. Vierter Band. Gisela Drohla (Hrsg). Insel-Verlag, Frankfurt am Main 1961, S. 114–164.
- ↑ Der Leinwandmesser. Übersetzer M. Stucken. In: Volkserzählungen, Jugenderinnerungen. München 1961.
- ↑ Der Leinwandmesser. Übersetzer H. Asemissen. Berlin 1963.
- ↑ russ. В. Я. Линков