Jacob G., altdeutscher Philolog. Er ist zu Hanau am 24. Februar 1786 geboren. Seine Lebensbahn geht fast durchweg mit der des Bruders parallel. Aber von vornherein zeigen wiederholte Krankheiten, daß er seinem Körper nicht die großen geistigen Anstrengungen zumuthen durfte, welche Jacob spielend leistete. Ein Jahr später, als Jacob, im Frühling 1803, bezog er die Universität Marburg; auch er studirte Jurisprudenz; auch für ihn war Savigny der Hauptlehrer; auch er gewann bei ihm Einsicht von dem Werthe geschichtlicher Betrachtung und einer richtigen Methode beim Studium. Im Frühjahr 1806 wurde er examinirt; die nächsten Jahre brachte er unter fortwährender Kränklichkeit in mäßiger [691] wissenschaftlicher Thätigkeit zu; im Frühling 1809 reiste er auf Veranlassung der Familie des Kapellmeisters Reichardt nach Halle, wo er bis zum Herbste blieb und sich wesentlich erholte. Hierauf besuchte er in Berlin seinen Freund Achim v. Arnim, auf dem Rückwege durch Weimar sah er Goethe, der ihn (an Voigt) als einen „ganz hübschen“, im altdeutschen Fache „ganz fleißigen“ Mann bezeichnet; als ein feiner, artiger, junger Mann wird er auch von Riemer an Knebel empfohlen. Zu Anfang 1814 ist er Bibliotheksecretär in Kassel geworden. Im Mai 1825 hat er sich mit Dorothea Wild, einer Urenkelin des Philologen Johann Matthias Gesner, verheirathet. Jacob schreibt am 14. September 1825 an Görres, der eben Großvater geworden war: er, Jacob, werde diese Würde allem Anscheine nach nie erreichen. „Doch muß ich melden (fährt er fort), daß wenigstens Wilhelm vorigen Mai Hochzeit gehalten hat mit einem braven, uns allen längst bekannten Mädchen, geheißen Dortchen, denn die Vornamen gelten ja im häuslichen Leben. Unser Beisammenleben und Wohnen und ewige Gütergemeinschaft hat darunter nichts gelitten, wir drei Brüder (der dritte der Maler Ludwig) wohnen und essen zusammen, um uns leichter durchzuschlagen. So verschleißen wir das Leben, äußerlich leidlich, innerlich nach alter Weise arbeitsam und vergnügt. Tage, Wochen und Monate fliegen wie Pfeile davon. Die Gesundheiten könnten wol besser sein, doch selbst das, wie eine Art Inoculation, schützt wider gähes Sterben.“ Gleich nach Neujahr 1830 ging Wilhelm mit Jacob als Unterbibliothekar nach Göttingen, im März 1831 wurde er zum außerordentlichen, im Juli 1835 zum ordentlichen Professor ernannt und hielt im Sommersemester seine erste Vorlesung über das Nibelungenlied. Im J. 1837 befand er sich unter den protestirenden sieben Professoren, lebte dann vom September 1838 bis März 1841 in Kassel und hierauf als Mitglied der Akademie der Wissenschaften zu Berlin, wo er am 16. December 1859 starb.
Grimm: Wilhelm (Karl) G., Bruder vonDer Grund von W. Grimm’s Wesen ist derselbe wie bei Jacob. „Ein Optimismus der edelsten Art war ihm eigen (bemerkt sein Sohn Herman); überall, auch in der größten Verwirrung der Dinge, suchte und entdeckte er die Richtung zum Guten, die sie nehmen müßten. Er verneinte das Schlechte, so lang er konnte. Erkannte er es offenbar, dann bemäntelte er es nicht, aber er wandte sich fest ab, wenn es ihm entgegentrat. Mit einer wunderbaren Geduld schickte er sich in das Unabänderliche. Das Gefühl des Glückes wuchs bei ihm mit den Jahren; immer heiterer, zufriedener fühlte er sich; bis in seine letzten Tage, ja Stunden reichte das hinein.“ Auch er hielt Erinnerungen bis auf das kleinste Detail fest und kehrte gern in Gedanken und Reden zu altgeschehenen Dingen und Verhältnissen zurück. Dieses genaue pietätvolle Festhalten übertrug er auf alle seine wissenschaftlichen Interessen, denen er unausgesetzt sorgsame Pflege widmete. Im stilistischen Ausbilden und Feilen geht er weit über Jacob hinaus. Er ist geduldiger, mehr im Besonderen glücklich, während Jacob zum Allgemeinen aufstrebt. In Briefen, wie im Gespräch war ihm ein liebenswürdiger Humor, eine schalkhafte Auffassung lächerlicher Menschen und Situationen eigen, welche in seinen Schriften nicht direct hervortritt, aber in seinem wissenschaftlichen und schriftstellerischen Charakter doch als bedeutungsvolles Element überall dort mitwirken mußte, wo es auf unbefangene poetische Betrachtung oder geradezu auf poetische Gestaltung ankam. „Aufmerksame Anmuth“ rühmt Jacob seiner Art, sich auszusprechen, nach und setzt hinzu: „In milder, gefallender Darstellung war er mir, wo wir etwas zusammen thaten, stets überlegen.“ „Seine Arbeiten waren durchschlungen von Silberblicken, die mir nicht zustanden.“ Wilhelm war im Leben ein guter Erzähler, und er hat diese seltene [692] Eigenschaft auch als Schriftsteller bewährt: die Kunstform der Kindermärchen, wie sie jetzt vorliegen, rührt von ihm her.
Die erste Sammlung der „Kinder- und Haus-Märchen, gesammelt durch die Brüder Grimm“ erschien 1812 und enthielt 85 Nummern. Daran schloß sich 1815 ein zweiter Baud mit 70 Nummern. Im J. 1819 erschien die zweite Ausgabe in zwei Bänden, dazu 1822 ein dritter Band Abhandlungen und Anmerkungen. Die Sammlung, die zuletzt auf 200 Märchen und 10 Kinderlegenden gebracht wurde, erlebte, wie bekannt, zahlreiche Auflagen, noch zahlreichere die kleine Ausgabe, eine Auswahl, welche jetzt wol das verbreitetste deutsche Kinderbuch überhaupt ist. Die Arbeit schließt sich in unserer Litteraturgeschichte unmittelbar an „Des Knaben Wunderhorn“ von Arnim und Brentano. Wie dort die deutschen Volkslieder zu neuem Leben erweckt werden sollten, so geschah es hier mit den Kindermärchen. „Ich hatte einmal“ – schreibt Jacob G. am 5. Dec. 1811 an Görres – „dem Clemens (Brentano) einen weitläufigen Plan zu einem deutschen Sammler gemacht, darin alle mündliche Sagen gesammelt werden sollten und ganz Deutschland in gewisse Sammelkreise getheilt war.“ Damals muß für die Märchen und Sagen schon Vieles gethan gewesen sein. Und Achim v. Arnim war es, der schließlich zur Herausgabe der Märchen den entscheidenden Antrieb gab. Er meinte, als er einmal einige Wochen in Kassel zubrachte, die Brüder sollten nicht zu lange damit zurückhalten, weil bei dem Streben nach Vollständigkeit die Sache am Ende liegen bleiben würde.
Wir wissen von Jacob G. selbst, daß er die späteren Ausgaben der Märchen, weil er in die Grammatik versenkt war, also wol seit 1819, ganz seinem Bruder zur Redaction überließ. In diesen späteren Ausgaben jedoch, von der zweiten an, haben sie erst ihre heutige Gestalt bekommen. Besonders der erste Band von 1812 hatte etwas Fragmentarisches und Ungleichmäßiges gehabt. Es war dort der Versuch gemacht worden, die Ueberlieferung mit der äußersten Treue, auch der Form nach, festzuhalten; und daher ergab sich, je nach dem Charakter dieser Ueberlieferung, ein ganz verschiedener Charakter der einzelnen Geschichten. Warum soll aber bei volksthümlichen Prosaerzählungen, die jedem gehören, der gebildete Schriftsteller auf ein Recht verzichten, das er dem zufälligen letzten ungebildeten Erzähler, seiner Quelle, nothwendig einräumen muß, weil er ihn selten controliren kann: das Recht, von seinem Eignen hinzuzuthun? Wäre dieses Eigene allzu individuell, so würde sich das rächen, der Ton wäre nicht getroffen, und das Volk würde solche Geschichten ablehnen. Ueber die Arbeit Grimm’s hat das deutsche Volk aber günstig entschieden. Er hat den natürlichen Ton unserer Volksmärchen idealisirt, indem er die schönsten, besten, naivsten, liebenswürdigsten Züge den mündlichen Erzählern ablernte und sie dann, den Regeln der Erzähltechnik gemäß, nach eigenem Ermessen verwerthete, wo sie am besten angebracht schienen. Er war dabei geleitet, wie Jeder von uns, der Kindern etwas interessant zu machen sucht, von einem unbewußten Gefühl oder auch bewußter Kenntniß dessen, was Kindern angenehm zu hören ist, was ihre Phantasie reizt und in Spannung versetzt. Wir besitzen Briefe von ihm an ein junges Mädchen, die ganz im Märchentone gehalten sind; alle Dinge, von denen er spricht, bekommen etwas unschuldig Glänzendes wie ein Weihnachtsbaum. Diesen Glanz hat er von der zweiten Ausgabe an über die Märchen gebreitet und ihnen damit wol erst den Platz erobert im Herzen der Kinderwelt, den sie jetzt einnehmen. Er hat damit aber zugleich das einzige Kunstwerk von dauernder Fortwirkung geschaffen, das aus jener romantischen Richtung auf Erneuerung volksthümlicher Ueberlieferung hervorging. Was Arnim und Brentano mit den Liedern, Tieck und Andere mit den Volksromanen versuchten, hat er mit den Märchen geleistet. Er hat dadurch in der [693] That dem ganzen Volke wiedergegeben, was auf den engen Kreis der unteren Stände eingeschränkt gewesen war. Einzelne Märchenfiguren sind wieder ganz populär geworden; deutsche Kinder, ob arm oder reich, ob niedrig oder hoch geboren, haben an ihnen gleichmäßig Antheil; Anspielungen auf die Märchen werden ebenso sicher verstanden, wie Anspielungen auf die Bibel; die Grimm’schen Märchen sind eine Bibel der Kinderwelt. Und mehr und mehr wachsen sie in die europäische Litteratur überhaupt hinein und werden ein internationales Buch. Sie gewinnen damit nur ein Gebiet zurück, das sie ehemals besaßen. Nachweisungen darüber enthält der dritte Band des Grimm’schen Werkes; alle die zahlreichen Parallelen aus der älteren deutschen und auswärtigen Litteratur werden zu jeder Nummer beigebracht; „Zeugnisse“ ergeben die Existenz von Märchen im classischen Alterthum, durchs ganze Mittelalter hindurch, im sechzehnten und den folgenden Jahrhunderten; die Märchensammlungen in allen Litteraturen werden aufgezählt und charakterisirt und so eine Monographie dieser Dichtungsgattung geliefert, von einer Gründlichkeit und Sorgfalt, wie wir sie so früh kaum von einer anderen besaßen. Auch ging eine große Anregung nicht blos zum Märchensammeln, sondern auch zur Märchenforschung und Vergleichung von dem Grimm’schen Buche aus. Als Kunstwerk konnte es nicht übertroffen werden; alle anderen Märchen, die von Andersen, die schon 1810 entstandenen von Clemens Brentano, das auf verwandtem Boden gewachsene „Heimelchen“, haben, so hübsch, ja glänzend schön sie sind, einen zu starken individuellen Beigeschmack, um sich ins ganze Volk auszubreiten. Als Untersuchung aber gab das Buch nur eine Grundlage, und die Wissenschaft hat es allerdings, nach Erschließung indischer Quellen, übertreffen können. Gewiß stecken in den Märchen Reste uralter Novellenpoesie, welche selbst der Mythenbildung vorausliegt; aber sie aufzuweisen, ist schwer, vielleicht unmöglich; dagegen die spätere Entlehnung von Volk zu Volk liegt vor Augen, und dafür sind treffliche Nachweise gelungen, welche fortzusetzen und möglichst abzuschließen, nächste Pflicht der Forschung ist.
Aehnliche Wirkungen, wie von den Märchen, konnten nicht von den „Deutschen Sagen“ (1816, 1818) ausgehen. Sie waren mehr gelehrtes Werk, als Kunstwerk. Die schönsten, gewaltigsten deutschen Sagen, die aus dem germanischen Epos stammen, auch die aus der französischen Volkspoesie eingedrungenen und so manche andere, waren ausgeschlossen. Was dann zurückblieb, hatte geringen epischen Reiz und oft kleinen Gehalt an Poesie. Die Vorrede prägte den Unterschied zwischen Märchen und Sage fest aus, wie er damit für die wissenschaftliche Terminologie gewonnen wurde. Das Märchen ist zeitlos, ortlos; die Sage haftet an bestimmten Orten oder historischen Personen.
Der Antheil der Brüder an den „Sagen“ läßt sich nicht sondern. Ebensowenig an den „Irischen Elfenmärchen“ (1826), die sie aus dem Englischen übersetzten und mit einer schönen Einleitung versahen, über die Elfen in Irland, in Schottland, und über das Wesen der Elfen: eine ganze Naturgeschichte dieser zarten poetischen Gebilde, zugleich eine Vorarbeit zur deutschen Mythologie.
Das zweite große Verdienst Grimm’s neben dem, was er für die Märchen that, sind seine Studien über Geschichte der deutschen Heldensage, die ihn ganz nothwendig zu fruchtbarer Beschäftigung mit der altnordischen Litteratur führen mußten. Schon 1808 schied er streng die romantische, d. h. aus dem Romanischen übersetzte, von dem „Wichtigsten und Größten“ in der altdeutschen Poesie, dem Nibelungenliede. Nichts von der romantischen Poesie könne diesem Gedicht an die Seite gesetzt werden. Darin liegt eine Ueberschätzung, welche z. B. eine starke Ungerechtigkeit gegen den Parzival enthält. Aber die ausschließliche Begeisterung kam seiner wissenschaftlichen Leistung zu gute. An einen Aufsatz [694] „Ueber die Entstehung der altdeutschen Poesie und ihr Verhältniß zu der nordischen“ (1808) schloß sich die wohlgelungene Uebersetzung „Altdänischer Heldenlieder, Balladen und Märchen“ (1811) mit dem reizenden polemischen Nachspiel (Drei altschottische Lieder, nebst einem Sendschreiben an Herrn Professor F. D. Gräter, 1813), die Sammlung der Zeugnisse über die deutsche Heldensage in den altdeutschen Wäldern (1813 und 1816) und das daraus entstandene wissenschaftliche Hauptwerk Grimm’s „Die deutsche Heldensage“ (1829, zweite Ausgabe von Müllenhoff, 1867). Da die Sagen von den Nibelungen, von Dietrich v. Bern, von Ermanarich etc., kurz was wir die Heldensage nennen, das germanische Epos, das zur Zeit der Völkerwanderung entstand, sich Jahrhunderte lang ohne schriftliche Fixirung fortpflanzten, so ist die geschichtliche Entwickelung nur aus Anspielungen zu entnehmen. Diese sammelte G. auf das sorgfältigste und lieferte damit eine unumstößliche Grundlage für den wichtigsten und schwierigsten Theil unserer Dichtungsgeschichte. Die allgemeine Ansicht der Heldensage, die er hinzufügte, richtet sich sowol gegen die mythische, wie gegen die historische Auffassung, womit sich dann freilich ein Verzicht auf alle einheitliche Erklärung verbinden muß, aber sehr weislich der Blick auf rein poetische Elemente offen gehalten wird, von denen man vielleicht allzu früh glaubte absehen zu dürfen.
Auch ein Bericht über „Die altnordische Litteratur in der gegenwärtigen Periode“ (im „Hermes“ von 1820) verweilt mit Vorliebe auf der Heldensage und volksthümlichen Dichtung; er ist noch heute lehrreich und lesenswerth. Vortrefflich redet er z. B. über die Trennung von Volks- und Kunstpoesie in Dänemark (S. 27) und über das Studium des vaterländischen Alterthums im Verhältniß zur Gegenwart (S. 52): wie die Maler durch das Studium der Anatomie erst die leisen Uebergänge und wallenden Linien des lebenden Leibes erkennen, so diene auch das Alterthum zur Schärfung des Blickes; man lerne daraus, in dem Unscheinbaren den Keim des Wichtigen sehen, Schwankendes stützen, das Verwirrte ordnen, Brauchbares nicht vorschnell verwerfen. Nächst dem einheimischen sei das scandinavische Alterthum am wichtigsten, weil das germanische Element unserer Bildung sich im Norden reiner erhielt und ungestörter entwickelte. Unter dem Gesichtspunkte gleichmäßiger Rücksicht auf Nordisches und Deutsches ist das Buch „Ueber deutsche Runen“ (1821) geschrieben, welches für die deutsche Wissenschaft Basis des Runenstudiums überhaupt geworden und zunächst von G. selbst in einem Nachtrage „Zur Litteratur der Runen“ (1828, Wiener Jahrbücher Bd. 43) fortgeführt ist.
Eine dritte Hauptrichtung in Grimm’s Thätigkeit bilden seine Ausgaben altdeutscher Texte. Es sind, nach der Chronologie unserer Litteraturgeschichte geordnet, die folgenden: „Exhortatio ad plebem christianam“ und „Glossae Cassellanae“ (1845, 1846); „Altdeutsche Gespräche“ (1849, 1851); „Das Rolandslied“ (1838); „Wernher von Niederrhein“ (1839); „Marienlieder“ (1856 in Haupt’s Zeitschrift, Bd. 10); „Graf Rudolf“ (1828, zweite Ausgabe 1844); „Athis und Prophilias“ (1844, 1852 und über die Sage Haupt’s Zeitschr. 12, 203); „Freidanks Bescheidenheit“ (1834, zweite Ausg. 1860, dazu Berl. Akad. Abh. 1849, 1851, 1855, Haupt’s Zeitschr. Bd. 11); „Der Rosengarten“ (1836, dazu Haupt’s Zeitschr. 11, 243. 536, Berl. Akad. Abh. 1859); „Konrads von Würzburg goldene Schmiede“ (1840) und „Silvester“ (1841). Die verschiedensten Litteraturgattungen finden sich, wie man sieht, vertreten: Uebersetzungs-Prosa, Glossen, weltliches Epos und geistliche Didaktik des zwölften Jahrhunderts, höfisches und volksthümliches Epos, volksthümliche Didaktik des dreizehnten Jahrhunderts. Die Aufgaben, die er sich dabei vorsetzte, waren sehr mannigfaltiger Art. Die althochdeutschen Texte begleitete er mit einer fast vollständigen Statistik der Lautlehre. Beim „Rolandsliede“, beim „Athis“ stellte [695] er die verschiedenen Fassungen der Sage zusammen, wie er denn auch die Sage vom Polyphem (1857) vergleichend und die Sage vom Ursprunge der Christusbilder (1841) behandelte und bei der „Goldenen Schmiede“ alle Sinnbilder des Mariencultus zusammenstellte. In der Textbehandlung Konrads von Würzburg ist er übertroffen worden, beim „Wernher von Niederrhein“ hat er vieles zu thun gelassen. Aber die Fragmente vom „Grafen Rudolf“ wurden auf das sauberste ergänzt, und der „Athis“ gab nicht blos sprachliche Bemerkungen, welche dem Studium altdeutscher Mundarten auf bedeutende Weise zu gute kamen, sondern auch Beobachtungen über die Eigenthümlichkeiten des höfischen Epos, welche für die historische Stilistik bahnbrechend wurden. Der „Freidank“ bewältigt ein massenhaftes handschriftliches Material, er ist reich mit Abhandlungen ausgestattet, welche den Gehalt des Werkes schön ins Licht setzen, und es knüpft sich daran die Hypothese, der fahrende Sänger Freidank sei mit Walther von der Vogelweide identisch: eine Vermuthung, die sich zwar nicht bewährte, zu deren Beweis aber eine Menge an sich werthvoller Beobachtungen gemacht wurden, in deren Gefolge auch die umfassende Arbeit „Zur Geschichte des Reimes“ (1850) entstand: ein Beitrag zur Metrik von ganz ungewöhnlicher Stofffülle, durchaus grundlegend, wenn auch der Fortführung und selbst der Correctur oft bedürftig.
Grimm’s Editionen werden als solche von denen Lachmann’s und Haupt’s übertroffen, aber sie übertreffen diese bei weitem durch reiche Beigaben zur litterarhistorischen Charakteristik und Verwerthung.
Nach einer vierten, sonst wenig vertretenen Richtung liegt Grimm’s Antheil am deutschen Wörterbuch. Er hatte den Buchstaben D gerade vollendet, als ihn seine Todeskrankheit ergriff. Daß die weiten etymologischen Ausblicke fehlen, zeigt scharf seinen Unterschied von Jacob. Dagegen innerhalb des gegebenen historischen Materiales die klarste, anmuthig ruhige Entwickelung der Bedeutungen, die äußerste Sorgfalt und Sauberkeit, „feine Abgrenzung und Ausführung“, wie Jacob sagt. Von seinem ersten Werke bis zum letzten sind dies die Eigenschaften, die ihm vor allen anderen nachgerühmt werden müssen. Er weiß früh zu erfassen, was ihm gemäß ist, und hält es mit Treue fest. Seine wissenschaftliche Entwickelung zeigt keine Sprünge und Umwälzungen. Von Anfang an steht ihm Besonnenheit zur Seite. Ihn an dem Bruder zu messen, ist ungerecht. Er hat sich andere Ziele gesteckt, diese aber in seiner Art ebenso vollkommen erreicht. Beide Brüder zusammen ergeben das Bild eines unvergleichlichen Strebens im Dienste deutscher Wissenschaft, zur Ehre der Nation: die Totalität ihrer Arbeiten umfaßt alle Richtungen, in denen die philologische Erkenntniß des Wesens unserer Nation überhaupt gefördert werden kann. Und zwei verschiedene, gleichberechtigte, gleich nothwendige Arten im Betriebe der Wissenschaft erschienen durch sie gleichsam symbolisch ausgeprägt: das großartige Finden und das ruhige Ausbilden.
- Litteratur: Großentheils die bei Jacob G. angeführte. (Herman Grimm) Vossische Zeitung vom 24. December 1859. Raßmann bei Ersch-Gruber a. a. O. 275–307. Briefe in der Germania Bd. 12, 13. Briefwechsel mit Lachmann über das Nibelungenlied, Zeitschrift für deutsche Phil. 2, 193. 343. 515.