Als Urchristentum oder Frühchristentum wird die Anfangszeit des Christentums von der Kreuzigung des Jesus von Nazaret (um 30 n. Chr.) bis zur Trennung der Christen vom Judentum (um 100) oder bis zu den jüngsten Schriften (um 130) des Neuen Testaments (NT) bezeichnet. Christen fassen jene Anfangszeit oft als das ursprüngliche oder wahre Christentum auf und stellen die Schriften des NT der späteren Kirchengeschichte normativ gegenüber, oft verbunden mit einem Wahrheitsanspruch gegenüber anderen christlichen Richtungen.
Bezeichnung
Der Ausdruck „Urchristentum“ erscheint erstmals ab etwa 1770 in deutschsprachiger Literatur der Aufklärung. Er beinhaltet ein Geschichtsbild, wonach das Ursprüngliche von späteren Verfremdungen frei gewesen sei und daher als normatives Ideal dem folgenden Christentum gegenüberstehe. Gleichwohl akzeptierte die Forschung die Bezeichnung für dessen Entstehungsepoche. Um die normative Nebenbedeutung zu vermeiden, bevorzugen manche Historiker dafür den Ausdruck „Frühchristentum“.[1]
Im NT kommen diese Bezeichnungen nicht vor. Jesus von Nazaret und seine Anhänger in der Jesusbewegung waren Juden, die das Judentum erneuern, aber keine neue Religion gründen wollten. Auch fast alle Autoren der später im NT vereinten Texte waren Juden, die die Jesusanhänger als Teil des Judentums sahen. Diese wurden erstmals in der römischen Provinzhauptstadt Antiochia Christianoi oder Christiani („Christianer“, „Christen“, „Anhänger des Christus“) genannt (Apg 11,26 EU). Damit bezeichneten Römer diese jüdische Gruppe nach ihrem vermuteten Anführer, um sie von anderen Juden zu unterscheiden. Denn Jesu Anhänger bezeugten ihn mit dem griechischen Hoheitstitel Christós (latinisiert Christus) als den im Judentum erwarteten „Gesalbten“ (hebräisch maschiach, latinisiert Messias). Römer missverstanden den Titel als Eigennamen dieser Person, analog zum geläufigen römischen Vornamen Chrestus.[2]
Das deutsche Wort „Christentum“ übersetzt das griechische Substantiv Christianismos, das ab etwa 110 in den Ignatiusbriefen und weiteren frühchristlichen Schriften auftaucht. Es war dort explizit Gegenbegriff zum Ioudaismos und beinhaltete dessen Ablehnung im Sinne der Substitutionstheologie, setzte also die Trennung der Christen vom Judentum voraus.[3] Die Bezeichnungen „Ur-“ oder „Frühchristentum“ enthalten also eigentlich eine antijüdische Konnotation. Demgemäß stellten viele Kirchenhistoriker den Glauben der Jesusanhänger früher als Kontrast zum Judentum dar, fassten Jesus ahistorisch als Religionsstifter auf und behaupteten irreführend: „Jesus war der erste Christ“.[4] Dies verfehlte das Selbstverständnis Jesu und seiner Nachfolger. Die aktuelle Forschung ordnet die messianische Jesusbewegung als in sich vielfältigen Teil des ebenfalls vielfältigen damaligen Reformjudentums ein.[5]
Quellen
Fast alles Wissen über die frühen Christen stammt aus ihren Texten, die von Missions- und Verkündigungsabsichten geprägt sind. Dazu zählen die 27 später ins NT aufgenommenen sowie die außerkanonischen frühchristlichen Schriften, darunter Apostolische Väter, Apokryphen und Pseudoepigraphen. Die Apostelgeschichte des Lukas (Apg) ist die einzige frühchristliche Schrift mit dem Anspruch eines Geschichtsberichts. Sie ist Hauptquelle zur Jerusalemer Urgemeinde, zum Apostelkonzil (48 oder 49) und zu den Missionsreisen des Paulus (34–60). Die Paulusbriefe enthalten dazu ebenfalls wichtige Hinweise, gerade auch wo sie der Apg widersprechen. Eine sekundäre Quelle ist die Historia ecclesiastica des Eusebius von Caesarea (um 324). Nichtchristliche Autoren wie Flavius Josephus, Sueton, Tacitus und Plinius der Jüngere überlieferten nur wenige, meist auf Einzelereignisse bezogene Informationen zum Urchristentum. Für ganze Phasen und Regionen dazu fehlen Quellen, etwa für die Jerusalemer Urgemeinde vom Apostelkonzil bis zur Zerstörung des Jerusalemer Tempels im Jahr 70 und für das Urchristentum in Nordafrika.[6]
Das NT wurde erst durch die Kanonbildung im zweiten Jahrhundert zur Urkunde des Christentums. Es beansprucht und behielt bis heute normativen Charakter für die meisten christlichen Kirchen und Konfessionen. Jedoch sind von keiner NT-Schrift außer den echten Paulusbriefen Autor und Umstände der Abfassung zweifelsfrei bekannt. Die historischen Daten lassen sich meist nur indirekt aus diesen Schriften erschließen.
Zeitrahmen und Zeittafel
Weil das Urchristentum erst nach Jesu Tod entstand, werden Leben und Lehre des Jesus von Nazaret noch nicht dazu gezählt.[7] Jedoch beginnen die meisten Darstellungen dieser Epoche mit Jesu Auftreten, da sich alle urchristlichen Texte darauf beziehen und viele seiner ersten Nachfolger tragende Vertreter des Urchristentums wurden.[6]
Das Urchristentum fällt in die Römische Kaiserzeit. Das NT nennt nur ein Fixdatum: Laut Lk 3,1 EU trat Johannes der Täufer im 15. Regierungsjahr des Tiberius, also etwa ab dem Jahr 28 öffentlich auf. Weitere Datierungen ergeben sich aus im NT genannten Namen damaliger römischer und jüdischer Regenten, deren Amtszeiten aus anderen Quellen bekannt sind. Ausgangspunkt ist Jesu Hinrichtung unter Pontius Pilatus, der von 26 bis 36 römischer Statthalter in Judäa war. Laut den synoptischen Evangelien starb Jesus am Hauptfesttag eines Pessach vor einem Sabbat, also an einem Freitag bzw. einem 15. Nisan im jüdischen Kalender. Laut dem Evangelium nach Johannes (Joh) starb er am Vorabend des Pessach, das damals auf einen Sabbat fiel, also an einem 14. Nisan. Nach ungefähren Kalenderberechnungen war der 15. Nisan in den Jahren 31 und 34, der 14. Nisan 30 und 33 ein Freitag.[8] Weil viele Historiker die Angaben des Joh für glaubwürdiger halten,[9] Jesus frühestens ab 28 und höchstens drei Jahre öffentlich auftrat und Paulus im Jahr 32 oder 33 Christ wurde,[10] gilt das Jahr 30 als wahrscheinliches Todesjahr Jesu.[11]
Von da aus datiert man nach Angaben der Paulusbriefe, der Apg und späterer Gemeindebriefe mit Hilfe außerchristlicher Quellen weitere frühchristliche Ereignisse:[12]
14–37: Kaiser Tiberius | |||
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Regionale Regenten | Ereignisse | Gemeinden | Schriften |
4–39: Herodes Antipas 26–36: Pontius Pilatus 36–37: Marcellus |
30: Kreuzigung Jesu; Gründung der Urgemeinde 32: Hinrichtung des Stephanus 33: Berufung des Paulus 35/36: Jerusalembesuch des Paulus ab 36: Paulusmission in Syrien und Kilikien |
32/33: Jerusalem, Samaria, Antiochia, Damaskus | ab 30: Credoformeln, Passionserzählung |
37–41: Kaiser Caligula; 41–54: Kaiser Claudius | |||
37–41: Marullus 41–44: Herodes Agrippa I. 44–46: Cuspius Fadus 46–48: Tiberius Alexander 48–52: Ventidius Cumanus |
~42: Jakobus der Ältere hingerichtet 49: Christen aus Rom ausgewiesen; Apostelkonzil |
ab 42: Paulus in Antiochia 48: Paulus und Barnabas in Zypern und Kleinasien ~45: Christen in Rom 50: Paulus in Philippi, Thessaloniki, Beroia 51/52: Paulus in Korinth 52: Paulus in Caesarea und Antiochia 52–54: Paulus in Ephesus |
~40: Logienquelle, Anteile des Thomasevangeliums 51: 1 Thess 52–54: 1 Kor; Gal; 2 Kor; Phil; Phlm |
54–68: Kaiser Nero | |||
52–58: Marcus Antonius Felix 58–62: Porcius Festus 62–64: Lucceius Albinus 64–66: Gessius Florus |
56: Kollektenreise 56–58: Paulus in Jerusalem und Caesarea inhaftiert 58/59: Paulus nach Rom überstellt 59–61: Paulus in Rom inhaftiert ~61: Paulus stirbt in Rom 62: Jakobus (Bruder Jesu) in Jerusalem hingerichtet 64: Christen in Rom verfolgt ~64: Tod des Petrus ab 66: Jüdischer Krieg; evtl. Flucht der Urgemeinde nach Pella |
55: Paulus in Korinth | 55: Röm |
69–79: Kaiser Vespasian | |||
70: Zerstörung Jerusalems | ~70: Kol 72–75: Mk | ||
79–81: Kaiser Titus; 81–96: Kaiser Domitian | |||
80–90: Lk, Mt, Eph ~90: Apg 90–100: Joh; 1 Clem | |||
96–98: Kaiser Nerva; 98–117: Kaiser Trajan | |||
111/112: Prozesse gegen Christen in Pontus und Bithynien 115–117: Jüdische Aufstände in Ägypten |
~100: Didache ~100–110: 1–3 Joh 112–115: 1 Petr |
Die um 90 verfasste Apg umfasst rund 60 Jahre von der Gründung der Jerusalemer Urgemeinde bis zur Ausbreitung des Urchristentums nach Rom. Ihr folgend unterscheidet man das Apostolische Zeitalter der unmittelbaren Auferstehungszeugen (Apostel) bis zum Tod des Paulus (30–61) von der nachapostolischen Zeit, in der die Briefe der Paulusschüler, Pastoralbriefe und Katholische Briefe verfasst wurden (~60–110). Diese Zeit wurde oft unscharf „Frühkatholizismus“ genannt, weil damals die ersten Kirchenämter entstanden.[6]
Das Ende des Urchristentums wird verschieden festgelegt, je nachdem, welche Glaubensinhalte man dafür als wesentlich einstuft.[1] Manche Kirchenhistoriker zählen nur die bis zur Trennung vom Judentum (um 100) entstandenen, die meisten jedoch alle 27 NT-Schriften dazu. Dann endete das Urchristentum mit der um 130 verfassten Offenbarung des Johannes. Diese hielt, anders als einige etwas ältere frühchristliche Schriften, in akuter römischer Bedrohung die unlösbare Verbindung der Jesusbewegung zum erwählten Gottesvolk Israel fest.[13]
Im Jahr 135 schlugen die Römer den jüdischen Bar-Kochba-Aufstand nieder, zerstörten Jerusalem erneut, vertrieben die Juden inklusive der restlichen Urchristen aus der Stadt und verboten ihnen streng die Rückkehr.[14] Spätestens damit endete die Zeit des Urchristentums. Danach erkannten die Römer die nun außerhalb der Region Palästina ansässigen Christen als eigene, vom Judentum verschiedene Religionsgruppe.[15]
Die Auferstehungserfahrungen
Das Urchristentum entstand laut dem NT infolge jenes historisch nicht fassbaren Ereignisses kurz nach Jesu Tod, das seine Anhänger als Auferstehung Jesu Christi erfuhren und verkündeten. Dieses Oster-Ereignis war nach den Eigenaussagen der ersten Zeugen der entscheidende Anstoß für ihre Rückkehr nach Jerusalem, Gründung der Jerusalemer Urgemeinde und öffentliches Bekennen Jesu als des vom Gott Israels auferweckten Messias.[16]
Die Kreuzigung Christi war für seine ersten Nachfolger, die sich von ihm eine innergeschichtliche Befreiung erhofft hatten (Lk 24,21 EU), eine Katastrophe. Denn sie waren allesamt Juden, für die diese Todesart ein Gottesurteil über Jesu Anspruch, Gottes Reich zu bringen, bedeutete: Ein toter Messias ohne messianisches Zeitalter universellen Friedens galt als endgültig gescheiterter Messias, seine Gegner hatten demnach recht behalten. Dies, wie auch die Gefahr, als Anhänger eines vermeintlichen Zelotenführers mit ihm hingerichtet zu werden, macht ihre Flucht bei Jesu Festnahme plausibel (Mk 14,50 EU). Obwohl die Texte dies nicht ausdrücklich feststellen, ist ihre Rückkehr in ihre Heimat Galiläa spätestens nach Jesu Grablegung wahrscheinlich. Damit war die Gemeinschaft, die Jesus unter ihnen gestiftet hatte, beendet.
Bald darauf kam es dennoch in der Hauptstadt Judäas, die als Tempelstadt zugleich Kultzentrum des gesamten Judentums war, zur Verkündigung durch die Anhänger, Jesus sei der von Gott zur Rettung aller Menschen auferweckte Kyrios Christus (Apg 2,36). Urchristen glaubten nach dem NT, dass Jesus selbst diesen Glauben an ihn bewirkte, indem er sich seinen Jüngern nach seinem Tod als (von Gott) „Auferweckter“ offenbart habe. Darauf beziehen sich die ältesten Credoformeln des NT, die nur diese eine Aussage variabel formulieren:
- „Er ist auferstanden am dritten Tag nach der Schrift …“ (1 Kor 15,4 EU)
- „Der Kyrios ist wirklich auferstanden und dem Simon erschienen …“ (Lk 24,34 EU)
- „Er ist auferstanden, er ist nicht hier.“ (Mk 16,6 EU)
„Auferstehung“ bzw. „Auferweckung“ meint im jüdischen Kontext kein geistiges Weiterleben nach dem Tod, sondern eine radikale, leibhafte Neuschöpfung des Toten; zudem macht ihnen ihre strikt monotheistische Religion es unmöglich, einen Menschen oder Messias als Gott zu verehren; die ganze Torah handelt von diesem Hauptthema.
Mit geistigem Weiterleben nach dem Tod ist im Christentum aber nicht ein Weiterleben im Tod gemeint. Im Apostolischen Glaubensbekenntnis wird eindeutig gesagt: „Auferstehung des Fleisches“. Also wird eine Auferstehung geglaubt, die auch eine Neuschöpfung ist.
Eine leibhafte Begegnung bzw. Visionen mit Jesus nach dessen Tod hatten nach urchristlichen Erzählungen auch Jakobus, Jesu Bruder, der ihm zu Lebzeiten nicht gefolgt war, und erbitterte Gegner der Urchristen wie Paulus, der weder sein Auftreten noch seinen Tod erlebt hatte. Zudem erstrecken sich Berichte über Begegnungen mit dem auferstandenen Jesus über einen längeren Zeitraum: Paulus berichtet von „500 Brüdern“, die ihn gesehen hätten und von denen einige noch lebten, so dass er sie den Korinthern um 55 als befragbare Augenzeugen präsentierte (1 Kor 15,6 EU).
Solche Begegnungen hatten Christen wie Skeptiker und auch mehrere Menschen gemeinsam zu verschiedenen Zeiten an verschiedenen Orten. Daher vermuten viele Historiker hinter den Epiphanien reale Erscheinungen, nicht bloße Halluzinationen. Wem der auferstandene Jesus zuerst erschienen sein soll, ist nach den NT-Berichten jedoch nicht eindeutig. Nach der von Paulus überlieferten Augenzeugenliste der Urgemeinde erschien er zuerst dem Simon Petrus, danach den versammelten Jüngern (1 Kor 15,5–6 EU). Nach Joh 20,11–18 EU erschien er zuerst der Maria Magdalena; nach Lk 24,13–35 EU zwei unbekannten Jüngern. Keines der später entstandenen Evangelien erzählt von den von Paulus genannten 500 weiteren Zeugen des Auferstandenen. Der als spätere Redaktion angesehene Schluss des Markusevangeliums (Mk 16,9–20 EU) bringt die vorliegenden Berichte in eine Abfolge, die der Zeugenliste von 1 Kor 15 widerspricht.
In jedem Fall spielten Petrus und einige der Frauen aus Galiläa eine wichtige Rolle dabei, die übrigen Anhänger wieder zusammenzurufen und nach Jerusalem zurückzuholen, um dort eine christliche Gemeinde zu gründen. Deren Leiter sollen nach der lukanischen Darstellung mit dem Kreis der zwölf Erstberufenen identisch gewesen sein. Ihre Autorität führen alle Evangelien auf eine gemeinsame Begegnung mit dem Auferstandenen zurück, bei der die Jünger ihren universalen Missionsauftrag erhalten haben sollen. Wo diese stattfand, ist ebenfalls widersprüchlich überliefert (Mt/Mk: in Galiläa; Lk/Jh: in Jerusalem).
Der Passionsbericht
Die Auferstehungserfahrung war der Kern- und Ausgangspunkt der apostolischen Botschaft von Jesus Christus: Sie konfrontierte Jesu Anhänger zunächst mit der Frage nach dem Sinn seines gewaltsamen Todes und eröffnete ihnen eine neue Perspektive, diesen zu deuten. Mithilfe der Erinnerung an Jesu Eigenverkündigung wurde seine Kreuzigung als stellvertretender Sühnetod, als ultimative Übernahme des Endgerichts Gottes und gnädige Einladung zur Umkehr gedeutet. Deshalb sind Kreuz und Auferstehung (Auferweckung) in allen urchristlichen Glaubensbekenntnissen eng miteinander verbunden. Sie bilden den gemeinsamen Hauptinhalt der nachösterlichen Verkündigung.
Von diesem Kristallisationskern aus wurde offenbar bald auch das vorherige Leben Jesu auf die zentralen Heilsdaten, seinen Tod und seine Auferstehung, hin nacherzählt. So entstand wohl schon im ersten Jahrzehnt der vormarkinische Passionsbericht in Jerusalem, den der erste Evangelist in sein Markusevangelium einbaute. Es gilt als das älteste der vier Evangelien des NT, das ihnen ihre Grundstruktur vorgab.
Urchristliche Gemeinden in Galiläa und Syrien
Parallel dazu müssen in Galiläa ebenfalls sehr früh christliche Gemeinden entstanden sein. So fand man in Kafarnaum eine frühchristliche Pilgerstätte. Sie wird mit dem ehemaligen Wohnhaus des Petrus identifiziert, wo sich die ersten Jesusanhänger trafen. Nach Mk 16,7 EU fanden Jüngerbegegnungen mit dem Auferweckten in Galiläa statt; dies bestätigt Mt 28,16–20 EU und Joh 21 EU.
Galiläische Jesusanhänger sammelten auch Reden, Streitgespräche und Gleichnisse, die Jesu zugeschrieben wurden. Diese Sammlung wurde erst mündlich, dann schriftlich tradiert und später als gemeinsame Logienquelle in das Matthäus- und Lukasevangelium aufgenommen.
In Damaskus existierte nach Gal 1,17 EU und Apg 9,2 ff. EU bereits vor der Berufung des Paulus (um 32–35) eine christliche Gemeinde. Angenommen wird, dass diese wahrscheinlich von in Jerusalem verfolgten Anhängern des Urchristen Stephanus gegründet worden war.
Der Missionsauftrag
Die Aufgabe der Jünger und Apostel war es nun, nicht nur die Lehren des Wanderpredigers aus Nazaret, sondern auch die „frohe Botschaft“ (Evangelium) von seiner Auferstehung zu verkünden. Die erste Gemeinde, die sich diesem Auftrag zur Mission verpflichtet sah, war jene Jerusalemer Urgemeinde. Hier bildeten die sogenannten „Säulen“ Petrus, Jakobus und Johannes (Gal 2,9 EU; Mk 5,37 EU und andere) das Zentrum der jüdischen Bewegung. Ihr erster Sprecher wurde Petrus, der später vermutlich von Jakobus abgelöst wurde. Petrus könnte dann über Syrien nach Kleinasien gelangt sein, wo in Antiochia eine weitere große Gemeinde entstanden war, und schließlich nach Rom, wo vermutlich schon in den 40er Jahren eine Urchristengemeinde entstanden war, an die auch Paulus seinen Römerbrief adressierte.
Der Missionsauftrag wurde zunächst unter den Juden ausgeführt und später auf die Heiden ausgeweitet.
Sowohl in der Jerusalemer Urgemeinde als auch den hinzukommenden Gemeinden und Zirkeln war die Erwartung der Wiederkunft (Parusie) Jesu als Messias bestimmend, die jedoch keine Grundlage in der jüdischen Schrift hat, da seine Anhänger ihn immer noch als christlichen Messias sahen. Auch bestanden alle frühen Gemeinden aus Judenchristen und qualifiziert konvertierten, beschnittenen Nichtjuden und waren Teil des Judentums, wie die Beachtung der Mitzwot und der Tempeldienst der Jerusalemer Urchristen veranschaulichen. Daneben gab es aber auch Griechisch sprechende Urchristen, die sogenannten Hellenisten, die sich kritisch zum Tempel äußerten und wohl nicht zuletzt deshalb von den jüdischen Machthabern verfolgt wurden. Selbst innerhalb der urchristlichen Gemeinde bekamen sie wirtschaftliche Probleme, da sie keinen Zugang hatten zur Armenversorgung des Tempels: Dies war der Hintergrund der Wahl der sieben Diakone (Apg 6 EU).
Das Apostelkonzil
Gegen den anfänglichen Widerstand konservativer judenchristlicher Kreise in der Jerusalemer Urgemeinde wurde im Verlauf eines Apostelkonzils (zwischen 44 und 49) vereinbart, dass die von der antiochenischen Gemeinde ausgehende Heidenmission als Konsens des Urchristentums akzeptiert wurde. Beginnend mit der Bekehrung von Diaspora-Juden (Gal 2,9 EU) und römisch-griechischen Heiden, gewannen überwiegend heidenchristliche Gemeinden außerhalb Palästinas wie Antiochia in der urchristlichen Sekte an Zahl und Bedeutung. Paulus und seine Helfer prägten die Theologie dieser neuen Gemeinden. Die neue paulinische Theologie wurde im gesamten Mittelmeerraum verbreitet. Im Rückblick ist so die Entstehung einer neuen Weltreligion eingeleitet worden. Eine totale Loslösung der urchristlichen Sekte aus dem Judentum und die Abwendung des neutestamentlichen Glaubens von den religiösen Traditionen und Lehren des Judentums – die jetzt vollzogen war – hatte der hellenisierte Jude und römische Bürger Paulus, als Hauptvertreter der Heidenmission und Stifter des Auferstehungsmythus Jesu, anfänglich jedoch ausgeschlossen (Röm 9–11 EU).
Das Ende der Urgemeinde
Mit der Hinrichtung ihres Leiters Jakobus im Jahr 62 verlor die judenchristliche Jerusalemer Urgemeinde ihre Führungsrolle im Urchristentum. Die Jerusalemer Christen wollten nicht am jüdischen Aufstand von 66 teilnehmen. Nach historisch zweifelhaften Angaben von Eusebius floh die Urgemeinde damals nach Pella, das heute zu Jordanien gehört. Sie soll aber nach Kriegsende (70) in das von den Römern zerstörte Jerusalem zurückgekehrt sein und noch bis 135 bestanden haben, unter anderen geleitet von Judas, einem jüngeren Bruder von Jakobus und Jesus.[17] Mit dem Scheitern dieses letzten jüdischen Aufstandsversuchs endete auch die Existenz der Urgemeinde. Die von ihr beeinflussten Gemeinden in Syrien und im Ostjordanland galten einigen Kirchenvätern im 2. Jahrhundert bereits als „Häresie“. Spätestens mit der Entstehung des Islam gingen die letzten Reste des nahöstlichen Judenchristentums unter.
Herausbildung kirchlicher Ämter
Umso sichtbarer wurden die kleinen (heiden)christlichen Gemeinden.[18] Von ihren Problemen und Streitigkeiten berichten die kanonisierten wie auch die nicht kanonisierten Briefe der ersten Christen. Paulus selbst schrieb mit die ersten dieser Briefe, die schon auf die Zeit von 50 bis 64 datieren. Bischof Clemens von Rom, der 99 den Märtyrertod starb, schrieb mit die ersten Briefe, die nicht mehr in das Neue Testament aufgenommen wurden. Innerhalb dieser Zeitspanne verschwanden dann auch zunehmend die Apostel, Propheten und Evangelisten (1. Clem 37,3) als Würdenträger und Autoritäten. Und auch wenn Clemens noch forderte: „Haltet euch an die Heiligen“ (1. Clem 46,2), wurde bereits von Paulus vor sogenannten „falschen Heiligen“ gewarnt (vgl. Eph 7,1 EU; Apg 15,1 EU).
Die Praxis der brüderlichen Belehrung (Mt 18,15–18 EU) verschob sich so auf die „Erstlinge“, die Erstgetauften einer Gemeinde, und schließlich die ersten sich herausbildenden Ämter: Episkopen (= Vorsteher, Bischöfe) (vgl. Eph 4,1 EU), Presbyter und Diakone ersetzten die charismatischen Ämter und konsolidierten die weiterhin autonomen Gemeinden. Dabei war in dem Versuch, die Einmaligkeit Jesu in der irdischen Hierarchie abzubilden, jeweils nur ein Bischof vorzufinden. Diesem monarchanischen Bischof unterstanden zur Hilfe bei der Liturgie die (oft an der Zahl der Apostel orientierten: zwölf) Presbyter. Presbyter war hier noch ein Ehrenamt und wurde erst später mit eigenen pfarrähnlichen Verpflichtungen versehen. Die praktischen Arbeiten oblagen dann den Diakonen, von denen eine bestimmte Anzahl nicht bezeugt ist.
Die Herausarbeitung von Hierarchie und Gemeindestruktur erwies sich als umso notwendiger, als sich die Erwartung vom nahen Ende der Welt und der Wiederkunft Christi (Parusie), von denen die Jünger noch geprägt schienen, nicht erfüllte. Die Phase der sogenannten „Parusieverzögerung“ wurde nun aber nicht als Ende der eschatologischen Perspektive gesehen, sondern als verlängerte Zeit für die Vorbereitungen verstanden. Die gepflegten Werte sollten dies in „Tat und Wahrheit“ belegen (1 Joh 3,18 EU): Der Dienst an der und für die Gemeinde wurde hervorgehoben sowie auch die Gastfreundschaft, das Beten und Fasten. Das Liebesmahl (Joh 13,34 EU) und der Liebesdienst (Agape) gewannen so erweiterte Bedeutung.
Gerade in dieser Kombination von asketischen Vorschriften, die sich auf die Christen selbst bezogen und auch vor deren eigenem Tod (Martyrium) nicht brachen, und der praktischen Nächstenliebe, die sich am Dienst an den Armen, Kranken und Verlassenen, den Witwen und Waisen und den Sklaven vollzog, bereiteten sich nicht nur die Anhänger der neuen Religion auf das nahe Ende vor, sondern diese Gemeinschaft gewann auch nach außen enorme Anziehungskraft. Schon Paulus hatte dies im Ansatz erkannt und daher für die Anfänge einer lokalen Mission nicht die größeren Städte selbst, sondern deren arme Vororte bevorzugt.
Als die Christenverfolgungen unter Domitian (81–96) die Mission erschwerten, konnte sich die organisierte Kirche insgesamt behaupten, ihren Zusammenhalt festigen und ihre Mitgliedschaft sogar vergrößern. Die verfolgten und getöteten Christen wurden als Märtyrer (Blutzeugen) Christi anerkannt und verehrt, deren Bekennertod ihnen Rettung im Endgericht versprach. Dies erhöhte die Attraktivität des jungen Christentums.
Erster heidnischer Autor, der sich mit den Christen befasste,[19] ohne sie sogleich zu verdammen, war der Philosoph und Arzt Galenos, der die Christen weniger als Religionsgemeinschaft denn als in der Nähe der Stoa zu verortende philosophische Schule ansah.[20]
Literatur
- Klaus Wengst: Wie das Christentum entstand: Eine Geschichte mit Brüchen im 1. und 2. Jahrhundert. Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 2021, ISBN 978-3-579-07176-3
- Friedrich Wilhelm Horn: Das Urchristentum. In: Karl-Wilhelm Niebuhr (Hrsg.): Grundinformation Neues Testament. Eine bibelkundlich-theologische Einführung. (2003) 3. überarbeitete und erweiterte Auflage, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2020, ISBN 978-3-525-03245-9, S. 388–407
- Hartmut Leppin: Die frühen Christen: Von den Anfängen bis Konstantin. 2. Auflage, Beck, München 2019, ISBN 3-406-72510-4.
- Markus Öhler: Geschichte des frühen Christentums. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2018, ISBN 978-3-8252-4737-9.
- Udo Schnelle: Die ersten 100 Jahre des Christentums 30–130 n. Chr.: die Entstehungsgeschichte einer Weltreligion. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2015, ISBN 978-3-8252-4411-8.
- Dietrich-Alex Koch: Geschichte des Urchristentums: Ein Lehrbuch. 2. Auflage, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2014, ISBN 3-525-52202-9.
- Klaus Berger: Die Urchristen. Pattloch, München 2008, ISBN 978-3-629-02184-7.
- Eduard Lohse: Das Urchristentum. Ein Rückblick auf die Anfänge. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2008, ISBN 3-525-53382-9.
- Hubert Frankemölle: Frühjudentum und Urchristentum: Vorgeschichte – Verlauf – Auswirkungen (4. Jahrhundert v. Chr. bis 4. Jahrhundert n. Chr.). Kohlhammer, Stuttgart 2006, ISBN 978-3-17-019528-8.
- Joachim Gnilka: Die frühen Christen. Ursprünge und Anfang der Kirche. 2. Auflage, Herder, Freiburg 1999, ISBN 3-451-27094-3.
- Jürgen Becker: Das Urchristentum als gegliederte Epoche. Katholisches Bibelwerk, Stuttgart 1993, ISBN 3-460-04551-5.
- François Vouga: Geschichte des frühen Christentums. Francke, Tübingen / Basel 1993, ISBN 3-8252-1733-7.
- Hans Conzelmann: Geschichte des Urchristentums. 6. Auflage, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1989, ISBN 3-525-51354-2.
Weblinks
- Aktuelle Literatur zum Urchristentum
- Ulrich Volp: Idealisierung der Urkirche (ecclesia primitiva). In: Europäische Geschichte Online, hrsg. vom Institut für Europäische Geschichte (Mainz), 2011
Einzelnachweise
- ↑ a b Friedrich Wilhelm Horn: Das Urchristentum. In: Karl-Wilhelm Niebuhr (Hrsg.): Grundinformation Neues Testament, Göttingen 2020, S. 388f.
- ↑ Klaus Wengst: Wie das Christentum entstand, München 2021, S. 90–93
- ↑ Klaus Wengst: Wie das Christentum entstand, München 2021, S. 317–332, besonders S. 327ff.
- ↑ Klaus Wengst: Wie das Christentum entstand, München 2021, S. 17
- ↑ Hubert Frankemölle: Frühjudentum und Urchristentum: Vorgeschichte - Verlauf - Auswirkungen (4. Jahrhundert v. Chr. bis 4. Jahrhundert n. Chr.). Kohlhammer, Stuttgart 2006, ISBN 978-3-17-019528-8, S. 27–41 (Einleitung)
- ↑ a b c Friedrich Wilhelm Horn: Das Urchristentum. In: Karl-Wilhelm Niebuhr (Hrsg.): Grundinformation Neues Testament, Göttingen 2020, S. 389f.
- ↑ Hans Conzelmann: Geschichte des Urchristentums. Göttingen 1989, S. 1
- ↑ Hans Conzelmann: Geschichte des Urchristentums. Göttingen 1989, S. 19
- ↑ Michael Theobald: Das Herrenmahl im Neuen Testament, in: Theologische Quartalsschrift 183/2003, S. 261
- ↑ Udo Schnelle: Paulus: Leben und Denken. De Gruyter, Berlin 2003, ISBN 978-3-11-015164-0, S. 34
- ↑ Gerd Theißen, Annette Merz: Der historische Jesus. Ein Lehrbuch. 4. Auflage, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2011, ISBN 978-3-525-52198-4, S. 152ff.
- ↑ Zeittafel nach Dietrich-Alex Koch: Geschichte des Urchristentums, Göttingen 2014, S. 517ff.
- ↑ Klaus Wengst: Wie das Christentum entstand, München 2021, S. 229–244
- ↑ Hubert Frankemölle: Frühjudentum und Urchristentum, Stuttgart 2006, S. 264
- ↑ Karl Martin Fischer: Das Urchristentum, Band 1/1. Evangelische Verlagsanstalt, Leipzig 1985, S. 130
- ↑ Klaus Wengst: Wie das Christentum entstand, Gütersloh 2021, S. 45–50
- ↑ Hubert Frankemölle: Frühjudentum und Urchristentum, Stuttgart 2006, S. 264
- ↑ Rainer Gugl: Zum spannungsvollen Nebeneinander von griechischrömischer und christlicher Religiosität in antiken Haushalten. Protokolle zur Bibel 25 (2016) 97–118 ([1] auf protokollezurbibel.at)
- ↑ Vgl. Gary B. Ferngren: Galen and the Christians of Rome. In: Istoriya meditsiniy (History of Medicine). Band 2, 2015, S, 291–297.
- ↑ Ferdinand Peter Moog: Galen liest „Klassiker“ – Fragmente der schöngeistigen Literatur des Altertums im Werk des Pergameners. In: Medizinhistorische Mitteilungen. Zeitschrift für Wissenschaftsgeschichte und Fachprosaforschung. Band 36/37, 2017/2018 (2020), S. 7–24, hier: S. 19 (Jüdische und christliche Schriften).