Unter dem Begriff der tiefgreifenden Entwicklungsstörungen (englischer Fachbegriff Pervasive Developmental Disorders, kurz PDD) wurde im Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM) von 1980 bis 2013 und in der Internationalen Klassifikation der Krankheiten (ICD) von 1994 bis 2022 eine Gruppe von psychischen Störungen zusammengefasst, die durch eine Beeinträchtigung der wechselseitigen sozialen Interaktion, Beeinträchtigungen der Kommunikation oder durch stereotypes Verhalten, Interessen und Aktivitäten gekennzeichnet sind. Die ersten Symptome zeigen sich meist bereits vor dem dritten Lebensjahr und die Entwicklung ist meistens zu keinem Zeitpunkt dem Alter entsprechend.[1][2] Die tiefgreifenden Entwicklungsstörungen wurden auch als Autismus-Spektrum-Störungen oder Störungen des Autismus-Spektrums (englischer Fachbegriff Autism Spectrum Disorders, kurz ASDs) bezeichnet.[3][4]
Bei allen tiefgreifenden Entwicklungsstörungen handelt es sich um Störungen der neuronalen Entwicklung, bei denen genetische Faktoren eine Rolle bei der Entstehung spielen. Mit Ausnahme des Rett-Syndroms – welches aufgrund ähnlicher Symptomatik in der Kindheit zugeordnet wurde, jedoch einen deutlich unterschiedlichen Verlauf und neurologische Charakteristik aufweist – sind keine genauen Ursachen oder Auslöser tiefgreifender Entwicklungsstörungen bekannt.[3][5] Ihre Diagnose erfolgt daher in der Regel anhand charakteristischer Verhaltensmerkmale. Tiefgreifende Entwicklungsstörungen umfassen eine große Breite unterschiedlicher Symptomatiken. Betroffene Personen unterscheiden sich deutlich in Bezug auf Fähigkeiten, Intelligenz und Verhalten.[5]
Aufgrund von Schwierigkeiten bei der diagnostischen Abgrenzung sind im DSM-5 (2013, revidiert 2022) und in der ICD-11 (2022) die vormaligen einzelnen tiefgreifenden Entwicklungsstörungen zur Diagnose Autismus-Spektrum-Störung zusammengefasst worden,[6][4] welche in die weiter gefasste Gruppe der Störungen der neuronalen Entwicklung eingeordnet ist.[7] Im DSM wurden dabei das Rett-Syndrom und die desintegrative Störung im Kindesalter als Diagnosen aufgegeben,[4] in der ICD-11 wird das Rett-Syndrom als Entwicklungsanomalie und nicht mehr als psychische Störung geführt.[8]
Einteilung
DSM-III
Das Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders in der Fassung von 1980 (DSM-III) benennt drei tiefgreifende Entwicklungsstörungen:
- frühkindlicher Autismus
- tiefgreifende Entwicklungsstörung mit Beginn in der Kindheit
- atypische tiefgreifende Entwicklungsstörung
DSM-III-R
Das Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders in der Fassung von 1987 (DSM-III-R) benennt zwei tiefgreifende Entwicklungsstörungen:
DSM-IV
Das Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders in der Fassung von 1994 (DSM-IV, revidiert 2000) benennt fünf tiefgreifende Entwicklungsstörungen:[1]
- 299.00: autistische Störung
- 299.10: desintegrative Störung im Kindesalter
- 299.80: Rett-Syndrom
- 299.80: Asperger-Syndrom
- 299.80: nicht näher bezeichnete tiefgreifende Entwicklungsstörung
ICD-10
In der Internationalen Klassifikation der Krankheiten in der Fassung von 1992 (ICD-10) sind die tiefgreifenden Entwicklungsstörungen in acht Kategorien eingeteilt:[2]
- F84.0: frühkindlicher Autismus
- F84.1: atypischer Autismus
- F84.2: Rett-Syndrom
- F84.3: andere desintegrative Störung des Kindesalters (z. B. Hellersche Demenz)
- F84.4: überaktive Störung mit Intelligenzminderung und Bewegungsstereotypien
- F84.5: Asperger-Syndrom
- F84.8: andere tiefgreifende Entwicklungsstörung
- F84.9: nicht näher bezeichnete tiefgreifende Entwicklungsstörung
Literatur
- Judith Sinzig, Martin H. Schmidt: Tiefgreifende Entwicklungsstörungen. In: Franz Petermann (Hrsg.): Lehrbuch der klinischen Kinderpsychologie. 7., überarbeitete und erweiterte Auflage. Hogrefe, Göttingen 2013, ISBN 978-3-8409-2447-7, S. 137–164.
Einzelnachweise
- ↑ a b Pervasive Developmental Disorders. In: American Psychiatric Association (Hrsg.): Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders, Fourth Edition, Text Revision. American Psychiatric Association, Arlington, VA 2000, ISBN 0-89042-024-6, S. 69–84.
- ↑ a b Pervasive developmental disorders. In: World Health Organization (Hrsg.): The ICD-10 Classification of Mental and Behavioural Disorders: Clinical descriptions and diagnostic guidelines. Genf 1992, ISBN 92-4154422-8, S. 252–259.
- ↑ a b Catherine Lord, Edwin H Cook, Bennett L Leventhal, David G Amaral: Autism Spectrum Disorders. In: Neuron. Band 28, Nr. 2, November 2000, S. 355–363, doi:10.1016/S0896-6273(00)00115-X, PMID 11144346.
- ↑ a b c Lindsay M. Oberman, Walter E. Kaufmann: Autism Spectrum Disorder Versus Autism Spectrum Disorders: Terminology, Concepts, and Clinical Practice. In: Frontiers in Psychiatry. 2020, doi:10.3389/fpsyt.2020.00484, PMID 32636765, PMC 7317665 (freier Volltext).
- ↑ a b Oana De Vinck: Pervasive Developmental Disorder. In: Fred R. Volkmar (Hrsg.): Encyclopedia of Autism Spectrum Disorders. Springer, New York, NY 2013, ISBN 978-1-4419-1697-6, S. 2207–2208, doi:10.1007/978-1-4419-1698-3_743.
- ↑ Nicole E. Rosen, Catherine Lord, Fred R. Volkmar: The Diagnosis of Autism: From Kanner to DSM-III to DSM-5 and Beyond. In: Journal of Autism and Developmental Disorders. Band 51, Nr. 12, Dezember 2021, S. 4253–4270, doi:10.1007/s10803-021-04904-1, PMID 33624215, PMC 8531066 (freier Volltext).
- ↑ Neurodevelopmental disorders. In: ICD-11 for Mortality and Morbidity Statistics. World Health Organization, 2023, abgerufen am 5. Juni 2023 (englisch).
- ↑ LD90.4 Rett syndrome. In: ICD-11 for Mortality and Morbidity Statistics. World Health Organization, 2023, abgerufen am 5. Juni 2023 (englisch).