Die Schweizer Parlamentswahlen 1893 fanden am 29. Oktober 1893 statt. Zur Wahl standen 147 Sitze des Nationalrates. Die Wahlen wurden nach dem Majorzwahlrecht vorgenommen, wobei das Land in 52 unterschiedlich grosse Nationalratswahlkreise unterteilt war. Die Freisinnigen (bzw. Radikal-Liberalen) behaupteten ihre Position als stärkste Kraft. Bedeutende Verluste mussten die Katholisch-Konservativen hinnehmen, wovon vor allem die liberale Mitte profitierte. Das neu gewählte Parlament trat in der 16. Legislaturperiode erstmals am 4. Dezember 1893 zusammen.
Wahlkampf
Der Zwist zwischen Freisinnigen und Katholisch-Konservativen nach dem gewalttätigen Tessiner Putsch von 1890 klang allmählich wieder ab. Zur Versöhnung trug insbesondere im Dezember 1891 die Wahl von Josef Zemp in den Bundesrat bei. Daran konnte auch das erfolgreiche Referendum gegen die Teilverstaatlichung der Centralbahn nichts ändern. Anstelle des konfessionellen Konflikts trat nun zunehmend die wirtschaftliche Lage in den Fokus. Die Schweiz war von einer Rezession betroffen; während in den städtischen Regionen die Arbeitslosigkeit spürbar anstieg, litt die Landwirtschaft unter zunehmender Hypothekarverschuldung. Als Folge davon dominierte die soziale Frage den Wahlkampf. Zu einer Solidarisierung zwischen Arbeitern und Bauern kam es jedoch nur im Kanton Basel-Landschaft, wo sich der Bauern- und Arbeiterbund bildete. In den anderen Kantonen schienen die gemeinsamen Interessen zu gering zu sein. Gleichwohl flossen verschiedene Reformvorschläge des Bauern- und Arbeiterbundes in die Programmatik der Sozialdemokratischen Partei ein.[1]
Erstmals nahmen die Wahlen in zahlreichen Kantonen klassenkämpferische Züge an. Arbeitskonflikte wie der Käfigturmkrawall am 19. Juni in Bern und ein in Zürich stattfindender Kongress der Zweiten Internationalen im August verstärkten die Abwehrhaltung der übrigen Parteien gegen die Sozialdemokratie. Die Freisinnigen versuchten, sich nach links hin zu erweitern. Dies bewirkte zwar eine Annäherung an die Demokraten, hatte aber auch die Folge, dass sich der Grütliverein den Sozialdemokraten annäherte und somit eine klare Trennlinie entstand. Die Wählerschaft der neuen grütlianisch-sozialdemokratischen Gruppe wurde aber letztlich als nicht besonders gross eingeschätzt, so dass der Wahlkampf eher flau ausfiel. Den Katholisch-Konservativen fehlte aufgrund der versöhnlichen Haltung der Freisinnigen ein zentrales Wahlkampfthema, zumal sie sich nun erstmals als Regierungspartei bewähren mussten.[2]
Während der 15. Legislaturperiode hatte es aufgrund von Vakanzen 15 Ersatzwahlen in ebenso vielen Wahlkreisen gegeben, dabei kam es nur zu marginalen Sitzverschiebungen. 1893 gab es insgesamt 63 Wahlgänge (drei weniger als drei Jahre zuvor). In 44 von 52 Wahlkreisen waren die Wahlen bereits nach dem ersten Wahlgang entschieden. Nur noch zwei Bundesräte traten zu einer Komplimentswahl an; d. h., sie stellten sich als Nationalräte zur Wahl, um sich von den Wählern ihre Legitimation als Mitglieder der Landesregierung bestätigen zu lassen. Dieser in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts übliche Brauch fand kaum noch Beachtung.[3] Mit der letzten Ergänzungswahl am 21. Januar 1894 war der Nationalrat komplett.
Die Wahlbeteiligung sank im Vergleich zu 1890 um 4,1 Prozentpunkte. Den höchsten Wert wies wie üblich der Kanton Schaffhausen auf, wo aufgrund der dort geltenden Wahlpflicht 91,5 % ihre Stimme abgaben. Über 80 % Beteiligung verzeichneten auch die Kantone Aargau und Appenzell Innerrhoden. Die tiefste Wahlbeteiligung gab es im Kanton Zug, wo nur gerade 17,5 % an den Wahlen teilnahmen. Die Freisinnigen stagnierten und blieben die mit Abstand stärkste Gruppierung. Markante Sitzverluste (−6) mussten die Katholisch-Konservativen hinnehmen, während die liberale Mitte stark zulegen konnte (+7). Nicht mehr im Parlament vertreten waren die reformierten Konservativen.
Ergebnis der Nationalratswahlen
Gesamtergebnis
Von 670'948 volljährigen männlichen Wahlberechtigten nahmen 391'610 an den Wahlen teil, was einer Wahlbeteiligung von 58,4 % entspricht.[4]
Die 147 Sitze im Nationalrat verteilten sich wie folgt:[5][6]
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Hinweis: Eine Zuordnung von Kandidaten zu Parteien und politischen Gruppierungen ist (mit Ausnahme der Sozialdemokraten) nur bedingt möglich. Der politischen Wirklichkeit des 19. Jahrhunderts entsprechend kann man eher von Parteiströmungen oder -richtungen sprechen, deren Grenzen teilweise fliessend sind. Die verwendeten Parteibezeichnungen sind daher eine ideologische Einschätzung.
Ergebnisse in den Kantonen
Die nachfolgende Tabelle zeigt die Verteilung der errungenen Sitze auf die Kantone.[7][8]
Kanton | Sitze total |
Wahl- kreise |
Betei- ligung |
FL | KK | LM | DL | SP | ER | ||||||
---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|
Aargau | 10 | 4 | 81,6 % | 6 | −1 | 2 | +1 | 2 | |||||||
Appenzell Ausserrhoden | 3 | 1 | 68,8 % | − | −1 | 3 | +1 | ||||||||
Appenzell Innerrhoden | 1 | 1 | 89,0 % | − | −1 | 1 | +1 | ||||||||
Basel-Landschaft | 3 | 1 | 45,0 % | 2 | −1 | 1 | +1 | ||||||||
Basel-Stadt | 4 | 1 | 55,0 % | − | −3 | 2 | +1 | 2 | +2 | ||||||
Bern | 27 | 7 | 52,9 % | 26 | +2 | 1 | − | −1 | − | −1 | |||||
Freiburg | 6 | 3 | 60,2 % | 1 | 4 | −1 | 1 | +1 | |||||||
Genf | 5 | 1 | 68,7 % | 2 | 3 | ||||||||||
Glarus | 2 | 1 | 55,7 % | 2 | +2 | − | −1 | − | −1 | ||||||
Graubünden | 5 | 3 | 59,9 % | 1 | 1 | −1 | 2 | +1 | 1 | ||||||
Luzern | 7 | 3 | 28,6 % | 2 | 5 | ||||||||||
Neuenburg | 5 | 1 | 57,4 % | 5 | |||||||||||
Nidwalden | 1 | 1 | 24,7 % | 1 | |||||||||||
Obwalden | 1 | 1 | 23,2 % | 1 | |||||||||||
Schaffhausen | 2 | 1 | 91,5 % | 2 | +1 | − | −1 | ||||||||
Schwyz | 3 | 1 | 22,3 % | 3 | |||||||||||
Solothurn | 4 | 1 | 50,9 % | 3 | 1 | ||||||||||
St. Gallen | 11 | 5 | 74,8 % | 3 | 5 | 1 | +1 | 2 | − | −1 | |||||
Tessin | 6 | 2 | 58,6 % | 6 | +4 | − | −4 | ||||||||
Thurgau | 5 | 1 | 60,2 % | 3 | 1 | 1 | |||||||||
Uri | 1 | 1 | 45,9 % | 1 | |||||||||||
Waadt | 12 | 3 | 51,5 % | 9 | −3 | 3 | +3 | ||||||||
Wallis | 5 | 3 | 47,6 % | 1 | 4 | ||||||||||
Zug | 1 | 1 | 17,5 % | 1 | |||||||||||
Zürich | 17 | 4 | 70,5 % | 7 | 9 | 1 | |||||||||
Schweiz | 147 | 52 | 58,4 % | 74 | ±0 | 29 | −6 | 27 | +7 | 16 | +1 | 1 | ±0 | − | −2 |
Ständerat
Die Wahlberechtigten konnten die Mitglieder des Ständerates in 14 Kantonen selbst bestimmen: In den Kantonen Basel-Landschaft, Basel-Stadt, Genf, Graubünden, Solothurn, Tessin, Thurgau, Zug und Zürich an der Wahlurne, in den Kantonen Appenzell Ausserrhoden, Glarus, Nidwalden, Obwalden und Uri an der Landsgemeinde. In allen anderen Kantonen erfolgte die Wahl indirekt durch die jeweiligen Kantonsparlamente.
Literatur
- Erich Gruner: Die Wahlen in den Schweizerischen Nationalrat 1848–1919. Band 1, erster Teil. Francke Verlag, Bern 1978, ISBN 3-7720-1442-9.
- Erich Gruner: Die Wahlen in den Schweizerischen Nationalrat 1848–1919. Band 1, zweiter Teil. Francke Verlag, Bern 1978, ISBN 3-7720-1443-7.
- Erich Gruner: Die Wahlen in den Schweizerischen Nationalrat 1848–1919. Band 2. Francke Verlag, Bern 1978, ISBN 3-7720-1444-5 (Anmerkungen).
- Erich Gruner: Die Wahlen in den Schweizerischen Nationalrat 1848–1919. Band 3. Francke Verlag, Bern 1978, ISBN 3-7720-1445-3 (Tabellen, Grafiken, Karten).
Einzelnachweise
- ↑ Gruner: Die Wahlen in den Schweizerischen Nationalrat 1848–1919. Band 1, zweiter Teil, S. 730–732.
- ↑ Gruner: Die Wahlen in den Schweizerischen Nationalrat 1848–1919. Band 1, zweiter Teil, S. 732–735.
- ↑ Paul Fink: Die «Komplimentswahl» von amtierenden Bundesräten in den Nationalrat 1851–1896. In: Allgemeine Geschichtsforschende Gesellschaft der Schweiz (Hrsg.): Schweizerische Zeitschrift für Geschichte. Band 45, Heft 2. Schwabe Verlag, 1995, ISSN 0036-7834, S. 227, doi:10.5169/seals-81131.
- ↑ Gruner: Die Wahlen in den Schweizerischen Nationalrat 1848–1919. Band 3, S. 369.
- ↑ Gruner: Die Wahlen in den Schweizerischen Nationalrat 1848–1919. Band 1, zweiter Teil, S. 737.
- ↑ Gruner: Die Wahlen in den Schweizerischen Nationalrat 1848–1919. Band 3, S. 485.
- ↑ Gruner: Die Wahlen in den Schweizerischen Nationalrat 1848–1919. Band 3, S. 225–236.
- ↑ Gruner: Die Wahlen in den Schweizerischen Nationalrat 1848–1919. Band 3, S. 360.