Rustizierung meint im Bauwesen bei Quadersteinen und im engeren Sinne das Stehenlassen einer unbearbeiteten Bosse als Ansichtsfläche. In der Regel handelt es sich um eine mit Absicht hergestellte raue Oberfläche, um so den Eindruck von „bäurischer“ Grobheit zu erzielen.[1] Rustika (fem.) oder Rustikamauerwerk (neutr.) als Synonyme bezeichnen ein Sichtmauerwerk mit kunstvoll rauer Oberfläche.
Wortherkunft
Das Wort rustizieren bzw. rustifizieren leitet sich ab von rustikal (lateinisch opus rusticum „bäuerliches Werk“[2]; Penther 1744: „Bauerisch Werck“[3]) und bedeutet „mit einer Rustika-Oberfläche versehen“.[4]
Übersetzungen:
Sprache | Wortformen | ||
---|---|---|---|
Deutsch | Rustika | rustizieren (rustifizieren) | Bandrustika (Bänderrustika) |
Englisch | rustication | to rusticate | banded rustication |
Französisch | le bugnato | ||
Italienisch | il bugnato rustico | il bugnato liscio | |
Spanisch | el almohadillado | almohadillar |
Unterscheidungen
Rustizierung
Im weiteren Sinne meint Rustizierung (Rustika) jede Art einer mehr oder weniger stark reliefierten Sichtmauerwerk-Oberfläche, egal ob sie steinmetzmäßig aus Naturstein oder imitiert als gezogener Quaderputz ausgeführt wurde.
Die Übergänge zum Bossenwerk und zum Buckelquadermauerwerk sind fließend.
Bandrustika
Wenn die Rustika keine Stoßfugen aufweist oder nur auf schmale Bänder beschränkt ist, spricht man von einer Bandrustika oder Bänderung.
Plattenrustika
Die Plattenrustika oder Steinschnittquaderung zeigt keine raue Oberflächen des Mauerwerks, sondern eine stark reliefiertes Mauerwerk mit mehr oder weniger glatten Quaderfronten (Spiegelquader) und tiefen Fugen.
Diese Variante ist verwandt mit Wandverkleidungen durch Marmorplatten (Inkrustation), wie sie aus Antike und Protorenaissance überliefert sind. Auch moderne Natursteinfassaden können als Plattenrustika ausgeführt werden.[5] Eine besonders kunstvolle Form der Plattenrustika ist die Diamantquaderung.
Eckrustizierung
Bei der Eckrustizierung beschränkt sich die Rustizierung auf die Ecken eines Gebäudes. Sie besteht in seltenen Fällen aus Werksteinen. Häufiger werden die Ecken mit Putzprofilen in die gewünschte Form gebracht oder Mal- bzw. Sgraffito-Techniken verwendet.[6]
-
Rustika am Palazzo Vecchio, Florenz
-
Rustika am Besucherzentrum des Heidelberger Schlosses (errichtet 2010–2011, Architekt Max Dudler[7])
-
Bandrustika, 1899 (Palais Hoyos-Sprinzenstein, Hoyosgasse 5–7, Wien)
-
Plattenrustika (Palazzo Spannocchi, Siena)
-
Plattenrustika, hier als Zierform, die sich nicht an die Quaderabmessungen hält (Friedrichsbau des Heidelberger Schlosses, 1601–1607)
-
Eckrustika an den Risalit-Kanten, 1835–1838 (Palais Toerring-Jettenbach, Maximilianstraße 2, München)
Geschichte und Verwendung
Rustiziertes Mauerwerk kam in der Antike bereits an hellenistischen Stadtmauern vor, war besonders in florentiner Palastbau seit dem 13. Jahrhundert verbreitet[8] und hatte sich seit den 1420er Jahren über Konstanz[9] auch nördlich der Alpen verbreitet. Rustizierungen als ausdrucksstarke Zierformen erhielten sich bis in die Barockarchitektur und wurde teilweise auch im Verputz nachgeahmt. Sie wurden im Historismus des 19. und 20. Jahrhunderts bei Fassaden von Repräsentationsbauten wiederaufgenommen.
Rustizierung wurde in den Fassaden vor allem für die Erdgeschosse und zur Verstärkung der Ecken verwendet.[2] Die Rustika konnte sich aber auch auf die ganze Fassade, auf einzelne Stockwerke oder auf einzelne Bauglieder einer Fassade (Lisenen, Ecklisenen, Pilaster, Blendsäulen, Fenster- und Türrahmungen) erstrecken. Außer Fassaden und Fassadenelementen wurden auch freie Bauglieder wie z. B. Pfeiler und Säulen rustiziert.
-
Bandrustika im Erdgeschoss, rustizierte Ecklisene im ersten Stock. Steyr, Haus Sierninger Straße 82
-
Bandrustika-Pilaster im Erdgeschoss. Coburg, Haus Friedrich-Rückert-Straße 53
-
Rustizierte Fassade und Obelisken. Große Grotte im Hortus Palatinus des Heidelberger Schlosses
-
Rustiziertes Erdgeschoss. Stuttgart, Villa Berg
-
Rustizierte Fensterrahmungen und rustizierte Eckquaderungen am Mittelrisalit. Meiningen, Schloss Elisabethenburg
Eine Sonderform der Rustizierung ist in der Barockzeit die Übertragung des Quaderprinzips auf unverputztes Backsteinmauerwerk, wie sie beispielsweise vom 1784 bis 1787 „Haus des Superintendenten“ in Lüneburg bekannt ist.[10]
Historische Beschreibung der Rustizierung
Der Göttinger Architekturtheoretiker Johann Friedrich Penther hat 1744 die verschiedenen Formen der Rustizierung zur Barockzeit in seinem Lexicon Architectonicum unter dem Lemma Bossage so beschrieben:
„Bossage, Lapides eminentes, opus rusticum, Bäuerisch Werck, Opera rustica, Rustico ist, wenn die Mauern auswendig so gemacht werden, als bestünden sie aus lauter ansehnlichen Quadern, so breite und tieffe Fugen zwischen sich liessen, die Erhebung der Steine bekommt allerhand Veränderungen und nach selben besondere Nahmen. Sind die Kante der Steine abgeschnitten und wie ein Rinn=Leisten gebildet Fig. 13. Tab. XXII. heist es Bossage a doucine; Sind sie als ein Kehl=Leisten abgekanten Fig. 14. heist es Bossage a Talon; Wenn sie als ein Hohl=Leisten abgekanten Fig 15. heist es Bossage a cavet. Sind die Quadern vertiefft Fig. 16. heist es Bossage ravelé; Sind auf den Quadern Tasseln aufgesetzt Fig. 17. heißt es Bossage faillant; Gantz glat und schlecht heißt Bossage quarré, oder Pierre refend Fig. 18.; Sind die Kanten schröge abgeglichen, heißt es Bossage a chamfrain Fig. 19. Sind die Quadern in der Mitte gestippt, und mit einem Rand versehen, und die Fugen nach dem rechten Winckel vertiefft Fig. 20. heißt es Bossage a anglet piqué; Sind sie gestippt wie Würmer herum kriechen Fig. 21. heißt es Bossage vermiculé; Sind sie wie ein Diamant zugeschliffen Fig. 22. heißt es Bossage a point de Diamant.“[12]
Siehe auch
Literatur
- Hans Koepf, Günther Binding: Bildwörterbuch der Architektur. Mit englischem, französischem, italienischem und spanischem Fachglossar (= Kröners Taschenausgabe. Bd. 194). 4., überarbeitete Auflage. Kröner, Stuttgart 2005, ISBN 3-520-19404-X (Digitalisat auf moodle.unifr.ch, abgerufen am 9. Januar 2024), S. 398: Rustika.
- Lexikon der Kunst, Bd. 4: R–Stadt, E. A. Seemann Verlag, Leipzig 1994, S. 315: Rustika.
Weblinks
- Zur Plattenrustika, auf projekte.kunstgeschichte.uni-muenchen.de
Einzelnachweise
- ↑ Hans Koepf, Günther Binding: Bildwörterbuch der Architektur. Mit englischem, französischem, italienischem und spanischem Fachglossar (= Kröners Taschenausgabe. Bd. 194). 4., überarbeitete Auflage. Kröner, Stuttgart 2005, ISBN 3-520-19404-X (Digitalisat auf moodle.unifr.ch, abgerufen am 9. Januar 2024), S. 398: Rustika.
- ↑ a b Lexikon der Kunst, Bd. 4: R–Stadt, E. A. Seemann Verlag, Leipzig 1994, S. 315: Rustika.
- ↑ Johann Friedrich Penther: Ausführliche Anleitung zur bürgerlichen Bau-Kunst (Band 1): Enthaltend ein Lexicon Architectonicum oder Erklärungen der üblichsten Deutschen, Französischen, Italiänischen Kunst-Wörter der Bürgerlichen Bau-Kunst (…). Johann Andreas Pfeffel, Augspurg 1744, S. 16. (Digitalisat auf digi.ub.uni-heidelberg.de, abgerufen am 15. Februar 2024)
- ↑ In allgemeinen Wörterbüchern, Lexika und Enzyklopädien und in Kunstnachschlagewerken wird das Stichwort Rustika von Fall zu Fall erklärt, die Begriffe Rustizierung und rustiziert (im architektonischen Sinn) werden jedoch nicht berücksichtigt. Das Gleiche trifft für Bandrustika und Bänderrustika zu. Die hier gegebene Darstellung bezieht sich auf den üblichen Gebrauch der Begriffe in der kunsthistorischen Literatur. Im Lexikon der Kunst, siehe unter Literatur, wird unter dem Stichwort Rustika das Wort rustiziert im Zusammenhang verwendet, aber nicht definiert.
- ↑ Teils wörtlich übernommen aus dem Abschnitt Plattenrustika, auf projekte.kunstgeschichte.uni-muenchen.de, abgerufen am 9. Januar 2024.
- ↑ Helmut Gebhard: Bauernhäuser in Bayern. Hugendubel, München 1999, ISBN 978-3-89631-369-0, S. 380.
- ↑ Das Besucherzentrum. In: schloss-heidelberg.de. Abgerufen am 16. Januar 2024.
- ↑ Anja Eckert: Das Bossenmauerwerk der Florentiner Stadtpaläste. In: Burgen und Schlösser, Heft 3/2002, S. 151–161. Online auf journals.ub.uni-heidelberg.de, abgerufen am 10. Januar 2024.
- ↑ Frank Mienhardt: Das Haus „Zur Katz“ und das Empfangsgebäude des Bahnhofs. Italienrezeption im Konstanzer Stadtbild über die Jahrhunderte hinweg. In: Jürgen Klöckler (Hrsg.): Konstanz und Italien. Transalpine Beziehungen durch die Jahrhunderte. UVK Verlag, München 2023 (Kleine Schriftenreihe des Stadtarchivs Konstanz; 23), ISBN 978-3-7398-3232-6, S. 155–180. (GoogleBooks)
- ↑ Lüneburg, Bei der St. Johanniskirche 3, Haus des Superintendenten. In: denkmalatlas.niedersachsen.de. Abgerufen am 16. Februar 2024.
- ↑ Johann Friedrich Penther: Ausführliche Anleitung zur bürgerlichen Bau-Kunst (Band 1): Enthaltend ein Lexicon Architectonicum oder Erklärungen der üblichsten Deutschen, Französischen, Italiänischen Kunst-Wörter der Bürgerlichen Bau-Kunst (…). Johann Andreas Pfeffel, Augspurg 1744, Tafel XXII (Ausschnitt). (Digitalisat auf digi.ub.uni-heidelberg.de, abgerufen am 16. Februar 2024)
- ↑ Johann Friedrich Penther: Ausführliche Anleitung zur bürgerlichen Bau-Kunst (Band 1): Enthaltend ein Lexicon Architectonicum oder Erklärungen der üblichsten Deutschen, Französischen, Italiänischen Kunst-Wörter der Bürgerlichen Bau-Kunst (…). Johann Andreas Pfeffel, Augspurg 1744, S. 24: Bossage. (Digitalisat auf digi.ub.uni-heidelberg.de, abgerufen am 16. Februar 2024)