
Rotunda (lateinisch rotunda âdie runde [Schrift]â), auch Rundgotisch oder (veraltet) Halbgotisch, ist die moderne Bezeichnung fĂŒr eine mittelalterliche nichtkursive Buchschrift, die in Italien entstanden ist. Sie ist kalligraphisch ausgeformt und zĂ€hlt zur Gruppe der gebrochenen Schriften. Im SpĂ€tmittelalter und in der Renaissance wurde sie auch im Buchdruck verwendet.
Schriftgeschichtlicher Kontext
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Im Hochmittelalter fand ein schon im 11. Jahrhundert einsetzender Prozess der âGotisierungâ der Schrift statt, der mit der EinfĂŒhrung neuer Stilmerkmale und einer neuen Ăsthetik das gesamte Schriftwesen umprĂ€gte. Es entstanden die âgotischen Schriftenâ als Ausdruck eines gewandelten Stilempfindens, das kulturhistorisch in den Gesamtzusammenhang des Aufkommens der Gotik eingeordnet wird.[1] Im Lauf des 12. und frĂŒhen 13. Jahrhunderts formte sich der neue Stil aus und setzte sich ĂŒberall mehr oder weniger deutlich durch, allerdings regional unterschiedlich. Ein Hauptmerkmal ist die Brechung der SchĂ€fte, daher spricht man von gebrochener Schrift. Es entstand die frĂŒhe gotische Minuskel. Sie ist durch die Streckung und gerade Aufrichtung aller SchĂ€fte sowie die gleichartige Behandlung aller senkrecht auf der Linie stehenden SchĂ€fte charakterisiert. Die Buchstaben f und langes s stehen auf der Zeile. Buchschriften, die diese Kennzeichen aufweisen, werden als âTexturaâ oder âTextualisâ bezeichnet. Ein erst spĂ€ter, am Anfang des 13. Jahrhunderts, hinzutretendes Merkmal sind die Bogenverbindungen (englisch âbitingâ): Die einander zugekehrten Bögen zweier Buchstaben (beispielsweise o und c) werden so nahe zusammengerĂŒckt, dass die Bogenlinien sich teilweise ĂŒberdecken. Wenn die Bögen in gerade Striche umgebrochen sind, haben die beiden verbundenen Buchstaben die senkrechten Teile der umgewandelten Bögen gemeinsam. So wurde ein möglichst geschlossenes Schriftbild erzeugt, das dem Geschmack der Zeit entsprach und im SpĂ€tmittelalter die nichtkursiv geschriebenen Handschriften prĂ€gte. Erst in der Renaissance wurde die Textura von der Antiqua, der von den Humanisten favorisierten nichtkursiven Buch- und Druckschrift, verdrĂ€ngt.[2]
Die Rotunda in Handschriften
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]
Die Entwicklung zur gotischen Minuskel setzte im heutigen Belgien und in Nordfrankreich ein. Der neue Stil breitete sich nach Deutschland und England aus und erfasste im Lauf der Zeit in stĂ€rkerer oder schwĂ€cherer AusprĂ€gung das ganze lateinische Abendland. Eine Sonderentwicklung trat jedoch in Italien und SĂŒdfrankreich ein: Dort wurden die Elemente der Gotisierung nur teilweise aufgenommen. Im spĂ€ten 12. Jahrhundert[3] begann in Italien die Herausbildung einer spĂ€ter auch in SĂŒdfrankreich verbreiteten Buchschrift, der Rotunda. Sie erreichte zu Beginn des 13. Jahrhunderts ihr von da an stabiles Schriftbild. In Italien erlangte sie die Bedeutung, die in Mittel- und Westeuropa die dortigen Varianten der Textura hatten; in der spĂ€tmittelalterlichen italienischen Produktion nichtkursiv geschriebener Handschriften spielte sie eine zentrale Rolle. Die Rotunda zĂ€hlt zwar zu den gotischen Schriften, ist aber Ausdruck eines Ă€sthetischen Gestaltungswillens, der sich von dem in Nord- und Osteuropa vorherrschenden deutlich unterscheidet.[4] Manche PalĂ€ographen â unter ihnen Bernhard Bischoff â betrachten die Rotunda als Sonderform der Textura und bezeichnen sie als die italienische Textura.[5] Andere verwenden den Ausdruck âTexturaâ nur fĂŒr die Gruppe der nichtkursiven Buchschriften west- und mitteleuropĂ€ischen Ursprungs und sehen die Rotunda wegen des Unterschieds im Schriftbild âgeradezu in Opposition zur Texturaâ.[6]

Im Gegensatz zu den schmalen Texturaschriften der nördlicheren Regionen weist die Rotunda einen relativ niedrigen, runden, breiten Charakter auf. Damit zeigt sie ein Schriftbild, das im italienischen Buchwesen schon im 12. Jahrhundert vorherrschte. Von der frĂŒhgotischen italienischen Buchminuskel des 12. Jahrhunderts unterscheidet sie sich kaum; nur die Bogenverbindungen treten als neues Element hinzu. Sie sind in der Rotunda besonders hĂ€ufig und verstĂ€rken den Eindruck der Rundheit. Die gotische Brechung ist nur gemĂ€Ăigt durchgefĂŒhrt; beispielsweise entspricht dem sechseckigen o der nördlichen Textura ein spitzovales der Rotunda. Daher ist der Name âRotundaâ (âdie Gerundeteâ) treffend. Die meisten SchĂ€fte setzen breit auf der Zeile auf, nur der Schaft des i, die SchĂ€fte des u und die letzten SchĂ€fte von m und n sind nach rechts umgebogen. Nach o wird das r regelmĂ€Ăig rund geschrieben. Auch die UnterlĂ€ngen enden breit. Zum Schmuck dienende Haarstriche sind selten. Die Gestalt der Buchstaben war fixiert; die herrschende konservative Haltung lieĂ den Schreibern kaum Spielraum fĂŒr individuelle Abweichungen, wie sie in der nördlichen Textura vorkommen.[7]
Die âRotunda formataâ ist innerhalb der Rotunda gewissermaĂen das sĂŒdliche GegenstĂŒck zur Textualis formata, der formalisierten Textualis. Sie weist einen extrem groĂen Strichkontrast und einen Federwinkel von etwa 45° auf. Die Bögen, welche links unten und rechts oben liegen, sind mehr oder weniger rund, wĂ€hrend Bögen links oben und rechts unten scharf gebrochen werden.[8]
Im Unterschied zur nördlichen Textura verzweigte sich die Rotunda nicht in eine Reihe von Varianten mit ausgeprĂ€gten Unterschieden. In Bologna, wo viele Berufsschreiber damit beschĂ€ftigt waren, juristische Handschriften fĂŒr den Bedarf der dortigen UniversitĂ€tsangehörigen anzufertigen, entstand ein frĂŒher Typus von Rotunda-Handschriften, dessen Schrift lateinisch als littera Bononiensis (âBologneser Schriftâ) bezeichnet wird. Die in diesem Stil geschriebenen Texte fallen durch sehr engen Zeilenabstand und besonderen Reichtum an AbkĂŒrzungen auf, Ober- und UnterlĂ€ngen sind sehr kurz, doch handelt es sich â wie auch sonst bei der Rotunda â um eine klare Schrift. Sie breitete sich in Norditalien an den UniversitĂ€ten aus.[9]
SĂŒdfranzösische Schreiber folgten weitgehend dem Vorbild der italienischen. Auch in Spanien entstanden Codices, deren Schrift der italienischen Rotunda Ă€hnlich ist, und man verwendete dort auch die Bezeichnung littera rotunda.[10]
Verwendung im Buchdruck
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]
In den Buchdruck wurde die Rotunda in den sechziger Jahren des 15. Jahrhunderts eingefĂŒhrt. Ein Pionier war der in Rom tĂ€tige Drucker Ulrich Han. Bei der Verbreitung der Druck-Rotunda spielte der Drucker, Verleger und BuchhĂ€ndler Nicolas Jenson eine maĂgebliche Rolle. Er schuf in Venedig formvollendete Rotunda-Lettern, die in der Folgezeit oft nachgeahmt wurden und den Namen litterae Venetae (âvenezianische Schriftâ) erhielten. Der deutsche Drucker und Verleger Johann Koelhoff der Ăltere, der zeitweilig in Venedig gearbeitet hatte, brachte von dort die Rotunda nach Deutschland; der erste Druck mit seiner Rotunda-Type erschien 1471 in Köln.[11] Im spĂ€ten 15. Jahrhundert breitete sich die Druck-Rotunda in Europa weit aus; sie wurde in Spanien, Portugal, Frankreich und Deutschland heimisch und gelangte auch nach DĂ€nemark, Polen und Böhmen. Relativ selten blieb sie in den Niederlanden und in England. Um die Jahrhundertwende und im frĂŒhen 16. Jahrhundert wurde sie von den Renaissance-Schriften verdrĂ€ngt. In Spanien dominierte sie noch bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts. Am lĂ€ngsten behauptete sie sich in Italien im liturgischen Buchwesen, wo traditionell eine konservative Gesinnung herrschte; dort hielt sie sich noch bis ins 17. Jahrhundert.[12]
Literatur
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- Bernhard Bischoff: PalĂ€ographie des römischen Altertums und des abendlĂ€ndischen Mittelalters (= Grundlagen der Germanistik. Band 24). Erich Schmidt, Berlin 1979 (ĂŒberarbeiteter Sonderdruck aus: Deutsche Philologie im AufriĂ. 2. Auflage. Band I, Sp. 379â452); 4., durchgesehene und erweiterte Auflage ebenda 2009, ISBN 3-503-07914-9 (oder ISBN 978-3-503-09884-2), S. 174â178.
- Michelle P. Brown, Patricia Lovett: The Historical Source Book for Scribes. University of Toronto Press, Toronto 1999, ISBN 0-8020-4720-3, S. 103â110
- Severin Corsten: Rotunda. In: Lexikon des gesamten Buchwesens. 2., neu bearbeitete Auflage, Bd. 6, Hiersemann, Stuttgart 2003, ISBN 3-7772-0327-0, S. 388
- Albert Derolez: The Palaeography of Gothic Manuscript Books. From the Twelfth to the Early Sixteenth Century. Cambridge University Press, Cambridge 2003, ISBN 0-521-80315-2, S. 102â122
- Otto Mazal: PalĂ€ographie und PalĂ€otypie. Zur Geschichte der Schrift im Zeitalter der Inkunabeln. Hiersemann, Stuttgart 1984, ISBN 3-7772-8420-3, S. 13â15, 64â138
Weblinks
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- Dianne Tillotson: Medieval writing (Beispiele)
Anmerkungen
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- â Otto Mazal: PalĂ€ographie und PalĂ€otypie, Stuttgart 1984, S. 9.
- â Bernhard Bischoff: PalĂ€ographie des römischen Altertums und des abendlĂ€ndischen Mittelalters, 4. Auflage, Berlin 2009, S. 171â174, 176â178.
- â Hans Foerster, Thomas Frenz: Abriss der lateinischen PalĂ€ographie, 3., ĂŒberarbeitete Auflage, Stuttgart 2004, S. 237.
- â Otto Mazal: Lehrbuch der Handschriftenkunde, Wiesbaden 1986, S. 117; Albert Derolez: The Palaeography of Gothic Manuscript Books, Cambridge 2003, S. 102 f.
- â Bernhard Bischoff: PalĂ€ographie des römischen Altertums und des abendlĂ€ndischen Mittelalters. Berlin 1979, S. 166â168; 4. Auflage ebenda 2009, S. 174â177; Albert Derolez: The Palaeography of Gothic Manuscript Books, Cambridge 2003, S. 102.
- â Elke von Boeselager: Schriftkunde, Hannover 2004, S. 39; so verwendet die Begriffe auch Otto Mazal: Lehrbuch der Handschriftenkunde, Wiesbaden 1986, S. 115.
- â Bernhard Bischoff: PalĂ€ographie des römischen Altertums und des abendlĂ€ndischen Mittelalters, 4. Auflage, Berlin 2009, S. 175â177; Severin Corsten: Rotunda. In: Lexikon des gesamten Buchwesens, 2., neu bearbeitete Auflage, Bd. 6, Stuttgart 2003, S. 388; Otto Mazal: PalĂ€ographie und PalĂ€otypie, Stuttgart 1984, S. 13â15. Vgl. Hans Foerster, Thomas Frenz: Abriss der lateinischen PalĂ€ographie, 3., ĂŒberarbeitete Auflage, Stuttgart 2004, S. 237, 240; Albert Derolez: The Palaeography of Gothic Manuscript Books, Cambridge 2003, S. 102â109.
- â codices.ch. In: codices.ch. Abgerufen am 4. Juni 2020.
- â Bernhard Bischoff: PalĂ€ographie des römischen Altertums und des abendlĂ€ndischen Mittelalters, 4. Auflage, Berlin 2009, S. 177; Albert Derolez: The Palaeography of Gothic Manuscript Books, Cambridge 2003, S. 111; Otto Mazal: PalĂ€ographie und PalĂ€otypie, Stuttgart 1984, S. 15.
- â Albert Derolez: The Palaeography of Gothic Manuscript Books, Cambridge 2003, S. 111â117.
- â Severin Corsten: Koelhoff d. Ă., Johann. In: Lexikon des gesamten Buchwesens, 2., neu bearbeitete Auflage, Bd. 4, Stuttgart 1995, S. 263.
- â Severin Corsten: Rotunda. In: Lexikon des gesamten Buchwesens, 2., neu bearbeitete Auflage, Bd. 6, Stuttgart 2003, S. 388; ausfĂŒhrlich Otto Mazal: PalĂ€ographie und PalĂ€otypie, Stuttgart 1984, S. 64â138; Ernst Crous: Die gotischen Schriftarten im Buchdruck. In: Ernst Crous, Joachim Kirchner: Die gotischen Schriftarten, 2. Auflage, Braunschweig 1970, S. 30.
