Richard Epple (* 2. August 1954 in Breitenholz, heute Ammerbuch, im Landkreis Tübingen; † 1. März 1972 in Herrenberg-Affstätt) wurde von der Polizei nach eigenen Angaben irrtümlicherweise für einen RAF-Terroristen gehalten und im Laufe einer Verfolgungsjagd erschossen.[1]
Familie und Hintergrund
„Seit Generationen lebte die Familie Epple im ältesten Haus des kleinen Ortes Breitenholz im Tübinger Landkreis. Mit drei Kühen, zwei Schweinen und zehn Hühnern auf dem Hof sowie etwas Landbesitz waren es kleinbäuerliche Verhältnisse, in die Richard Epple am 2. August 1954 hineingeboren wurde. Sein Vater starb, als er zwölf Jahre alt war. Seitdem musste die Mutter Maria ihn und seinen älteren Bruder Erich allein aufziehen. Der pubertierende Jugendliche wuchs im Spannungsfeld zwischen 68er-Revolte und RAF-Hysterie auf, wobei er von beidem eher wenig mitbekam und sich vornehmlich dem Schrauben an Autos widmete.
Im Jahr von Epples Konfirmation 1968 legten Andreas Baader und Gudrun Ensslin mit zwei Komplizen mehrere Brände in zwei Frankfurter Kaufhäusern. Die Brandstifter*innen kamen in Haft. Am 14. Mai 1970 wurde Andreas Baader unter Einsatz von Waffengewalt befreit. Eine zentrale Rolle spielte dabei die junge Journalistin Ulrike Meinhof, welche bereits über den früheren Prozess berichtete. Gemeinsam mit Ensslin und dem Rechtsanwalt Horst Mahler galten Baader und Meinhof als Kopf der sich sukzessive vergrößernden Rote Armee Fraktion (RAF). Nach einer militärischen Ausbildung in Jordanien bombte und schoss sich die „Baader-Meinhof-Gruppe“ durchs Land.
[...] Richard Epple wurde als ein Opfer des (aus RAF-Angst) zum Polizeistaat aufrüstenden Rechtsstaat begriffen, als Opfer eines fatalen Verlustes der Verhältnismäßigkeit. Auf der anderen Seite ging der Staat in Abwehrstellung. In der Begründung zum Schusswaffengebrauch wird die Polizei später verlauten lassen, man habe Epple wegen seiner rücksichtslosen Flucht für einen RAF-Terroristen gehalten. Hans-Jörg Geigis gab zudem an, nur auf die Reifen gezielt haben zu wollen und nicht gesehen zu haben, dass es sich um einen sehr jungen Fahrer handelte. Da die ermittelnde Staatsanwaltschaft Stuttgart die "Grundsätze des Mindesteingriffs und der Verhältnismäßigkeit" beim Polizeieinsatz als nicht verletzt empfand, wurde das Verfahren gegen den Todesschützen nach drei Wochen wieder eingestellt. [...] Posthum wurde Richard Epple diffamiert, um ihm so eine (stärkere) Mitschuld an seinem Tod zu geben.“
Tod nach Verfolgungsjagd
Der 17-jährige Lehrling Richard Epple befand sich 1972 in seiner Ausbildung zum Mechaniker und schraubte in seiner Freizeit gern an Autos, hatte aber keinen Führerschein. Am Abend des 1. März 1972 fuhr er mit einem Ford Taunus 12M der Familie auf der Tübinger Wilhelmstraße. Zudem war Epple mit 2,3 Promille angetrunken. Er fiel einer Polizeistreife wegen einer Ordnungswidrigkeit auf: Einer seiner Blinker war defekt. Die Streife forderte Epple um 20:43 Uhr zum Anhalten auf, der beschleunigte jedoch und versuchte zu flüchten. Es folgte eine Verfolgungsjagd durch Tübingen und über die Bundesstraße 28 in Richtung Herrenberg, bei der Epple mehrfach das Polizeifahrzeug abdrängte und den Gegenverkehr gefährdete. Unterwegs übernahm eine Herrenberger Polizeistreife die Verfolgung. Epples Wagen durchbrach drei Straßensperren. Die Herrenberger Polizei hatte am Ortseingang eine Straßensperre errichtet. Epple durchbrach diese und gefährdete dabei einen Polizisten.[1][2]
„Bei dieser waghalsigen Aktion musste ein Polizist zur Seite springen, was dem fliehenden Epple als Mordversuch ausgelegt wurde. Zumindest geht das aus wütenden Funkmitschnitten hervor, die der verfolgende Tübinger Streifenführer Hans-Jörg Geigis mit der Zentrale führte, die wenig später entschied: „Dann aber Feuer frei!“
Nach einer circa 20 Kilometer langen Verfolgungsjagd schoss Polizeimeister Geigis sein gesamtes Pistolenmagazin ab – drei Warnschüsse und neun weitere gezielt, aber wirkungslos. Anschließend zog der 26-jährige Geigis eine Beretta-Maschinenpistole und lehnte sich aus dem Seitenfenster seines Polizeiwagens. Mitten im kleinen Örtchen Affstätt entleert er das gesamte Magazin seiner MP auf Epples Fahrzeug. Dessen Wagen kam ins Schleudern und rammte einen Eisenstab. Richard Epple wurde von sieben Kugeln durchsiebt und war sofort tot. [...] Den Flüchtenden traf ein Schuss in den Brustkorb, zwei in die linke Schulter, zwei in die Nackenpartie, einen in die linke Wange und einen in den Ellenbogen.“
In der Kuppinger Straße im Herrenberger Ortsteil Affstätt kam der Wagen auf Höhe der Gaststätte Die Linde zum Stehen. Kurz darauf trafen sein Bruder Erich Epple und sein Lehrmeister Georg Bahlinger dort ein. Bahlinger wurde gebeten, den Toten zu identifizieren, während der damals knapp 20-jährige Erich Epple damit beauftragt wurde, den Tod seines Bruders seiner Mutter Maria Epple mitzuteilen:[1][2]
„Meiner Mutter zu sagen, dass ihr Sohn nicht mehr lebt, das hat man einem jungen Seicher wie mir überlassen. Bis zu ihrem Tod war von der Polizei niemand bei ihr, um ihr zu sagen: „Wir haben Ihren Buben erschossen, es tut uns leid.““
Reaktionen
„Der Fall sorgte für Schlagzeilen und Furore. Landkreisweit solidarisierten sich Menschen mit der Familie, in Tübingen wurde das "Solidaritätskomitee Richard Epple" gegründet. In Herrenberg sollte eine Podiumsdiskussion der Frage nachgehen, ob die Polizei entwaffnet werden müsse. Der lokal bekannte Ali Schmeißner organisierte in der Tübinger Innenstadt ein Solidaritäts-Konzert mit den Politrockern "Ton Steine Scherben" um Rio Reiser, die sich wegen ihrer Tour gerade in der Nähe aufhielten. Das Konzert wurde jedoch wegen fehlender Anmeldung nach wenigen Songs von der Polizei aufgelöst. "Ton Steine Scherben" sollten wenige Monate danach noch eine größere Rolle bei der Besetzung eines leerstehenden Hauses spielen, welches später nach Richard Epple benannt werden wird.
In Breitenholz war unterdessen Richard Epple beigesetzt worden. Seine Mutter konnte die Beerdigungskosten vor allem von den 2000 Mark begleichen, die das "Solidaritätskomitee" für sie gesammelt hatte. Erich Epple war dennoch "nicht besonders froh" um das ausgiebige Engagement der Tübinger Schüler*innen und Studierenden. Er habe trotz viel Mitgefühl gemerkt, "dass sie den Fall meines Bruders auch in politischem Eigeninteresse ausschlachten wollten".“
Die Presse der radikalen Linken nahm den Tod Epples wie schon bei ähnlichen Vorfällen zum Anlass, den Staatsorganen und der die Staatsorgane unterstützenden Presse die Verantwortung für die Eskalation der Gewalt anzulasten. Der Tod Epples sei angesichts etlicher vergleichbarer Fälle eine Folge des Versuches, Massenhysterie zu erzeugen und Bevölkerung und Polizei aufzuhetzen.[3] Eine eingesetzte Untersuchungskommission kam zu dem Schluss, das Verhalten der Beamten sei unter den Umständen verhältnismäßig gewesen.[2] Der Todesschütze Geigis nahm sich 1975 mit seiner Dienstwaffe selbst das Leben.[1]
Weil der Jugendliche Bernd Melchert in einem Leserbrief im Schwäbischen Tagblatt am 24. Januar 1973 in Bezug auf Epples Tod den Begriff "ermordet" nutze, wurde Dietrich Siemann, dem Vorsitzenden der Gewerkschaft der Polizei von Baden-Württemberg, wegen übler Nachrede und Verleumdung zum Nachteil der Polizeivollzugsbeamten angezeigt.[1]
Gedenken
Nachdem im April 1972 das Jugendzentrum Schwabenhaus in Tübingen unter ungeklärten Umständen abgebrannt war und Tübinger Jugendliche vergeblich ein neues Jugendhaus gefordert hatten, wurde am 23. Juni 1972 nach einem Konzert der Band Ton Steine Scherben ein Haus in der Karlstr. 13 besetzt. Dieses Haus, das bis heute als selbstverwaltetes Jugendhaus existiert, wird in Erinnerung an Richard Epple „Epplehaus“ genannt.[1][4]
Der Name „Richard-Epple-Haus“ wurde bereits direkt nach der Hausbesetzung in einer Vollversammlung der Jugendlichen bestimmt. Die Benennung wurde von der kommunalen Verwaltung und der Polizei als Provokation verstanden und war Inhalt jahrelanger Streitigkeiten zwischen den Jugendlichen im neuen selbstverwalteten Jugendzentrum und der Stadt.[1]

Literatur
- Elias Raatz: "Dann aber Feuer frei!" - 1972: Richard Epple stirbt durch Schüsse aus einer Polizeiwaffe. In: Elias Raatz, Lucius Teidelbaum (Hrsg.): Wir hol'n jetzt unser Haus! über 50 Jahre Tübinger Jugendzentrum Epplehaus zwischen Hausbesetzung, Selbstverwaltung und Subkultur (= Edition Analyse & Subkultur). Dichterwettstreit deluxe, Villingen-Schwenningen/Tübingen 2025, ISBN 978-3-9880903-5-5, S. 20–23.
Weblinks
- Die Geschichte des Richard Epple, der am 1. März 1972 auf der Flucht erschossen wurde ( vom 25. Januar 2010 im Internet Archive). Artikel im Schwäbischen Tagblatt vom 1. März 2002 zu Epples 30. Todestag.
- Herrenberg: Die Erschießung von Richard Epple am 1. März 1972 im Spiegel der radikalen Linken (mao-projekt.de)
Einzelnachweise
- ↑ a b c d e f g Elias Raatz: „Dann aber Feuer frei!“ - 1972: Richard Epple stirbt durch Schüsse aus einer Polizeiwaffe. In: Elias Raatz, Lucius Teidelbaum (Hrsg.): Wir hol'n jetzt unser Haus! über 50 Jahre Tübinger Jugendzentrum Epplehaus zwischen Hausbesetzung, Selbstverwaltung und Subkultur (= Edition Analyse & Subkultur). Dichterwettstreit deluxe, Villingen-Schwenningen/Tübingen 2025, ISBN 978-3-9880903-5-5, S. 20–23.
- ↑ a b c Tragisches Ende einer Verfolgungsjagd. In: Gäubote. (gaeubote.de [abgerufen am 22. August 2017]).
- ↑ Jürgen Schröder: Herrenberg - Die Erschießung von Richard Epple am 1.3.1972 - Materialien zur Analyse von Opposition. 14. Juni 2012, abgerufen am 22. August 2017.
- ↑ Epplehaus. Jugendzentrum Epplehaus e. V., abgerufen am 22. August 2017.
Personendaten | |
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NAME | Epple, Richard |
KURZBESCHREIBUNG | deutsches Opfer der RAF-Hysterie |
GEBURTSDATUM | 2. August 1954 |
GEBURTSORT | Ammerbuch-Breitenholz, Landkreis Tübingen |
STERBEDATUM | 1. März 1972 |
STERBEORT | Herrenberg-Affstätt |