
Marie Bonaparte, Prinzessin von Griechenland und DĂ€nemark, auch als Pseudonym A. E. Narjani (* 2. Juli 1882 in Saint-Cloud; â 21. September 1962 in Gassin bei Saint-Tropez), war eine französische Psychoanalytikerin und Autorin.
Leben
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Ăber ihren Vater Roland Bonaparte war sie die Urenkelin Lucien Bonapartes, des Bruders von NapolĂ©on Bonaparte. Ihre Mutter, Marie Blanc, starb wenige Wochen nach ihrer Geburt an Tuberkulose. Ihre GroĂeltern mĂŒtterlicherseits waren François Blanc und dessen Frau Marie, die als KonzessionĂ€re der Spielbank von Monte Carlo reich wurden.
Als designierte Erbin des betrĂ€chtlichen mĂŒtterlichen Vermögens wuchs sie als Halbwaise unter der Obhut wechselnder Kinderfrauen und Gouvernanten im Haushalt des meist abwesenden Vaters auf. Als Haushaltsvorstand fungierte ihre GroĂmutter vĂ€terlicherseits. Die verarmten Bonapartes sorgten sich sehr um die kleine Mimi, die von allen möglicherweise schĂ€dlichen AuĂeneinflĂŒssen abgeschirmt wurde. Sie durfte nicht mit Gleichaltrigen spielen, um Infektionskrankheiten zu verhindern. Auch der Kontakt zur Verwandtschaft der Mutter wurde beschnitten. Mimi flĂŒchtete sich ins Schreiben von Horrorgeschichten, die sie Jahrzehnte spĂ€ter, wĂ€hrend ihrer Behandlung durch Sigmund Freud, mit dessen Hilfe aufarbeitete.

Im Sommer 1898 verliebte sich die sechzehnjĂ€hrige Marie in den SekretĂ€r ihres Vaters, der ihr den Hof machte und sie in Opposition zur vĂ€terlichen Familie der Bonapartes brachte. Roland Bonaparte entlieĂ schlieĂlich seinen offenbar korrupten SekretĂ€r. Dieser benutzte daraufhin die Liebesbriefe der SechzehnjĂ€hrigen, um die Bonapartes zu erpressen. Marie fĂŒhlte sich verraten und verfiel in eine Depression, deren heftige hysterische Begleiterscheinungen sie in Behandlung durch einen SchĂŒler Charcots brachte.
Am 21. November 1907 heiratete sie standesgemÀà Prinz Georg von Griechenland aus dem Haus Schleswig-Holstein-Sonderburg-GlĂŒcksburg. Sie hatten zwei Kinder:
- Petros (* 3. Dezember 1908; â 15. Oktober 1980), der von Beruf Ethnologe war; â 9. September 1939 Irene Ovtchinnikoff (* 19. September 1900; â 12. MĂ€rz 1990), die bereits zweimal geschieden war.
- Evgenia (* 10. Februar 1910; â 13. Februar 1989); â 1. Ehe am 30. Mai 1938 Dominicus Prinz RadziwiĆĆ (* 23. Januar 1911; â 19. November 1976). Die Ehe wurde am 27. Februar 1946 geschieden und am 18. Dezember 1952 kirchlich annulliert. In zweiter Ehe heiratete sie am 28. November 1949 Don Raymund Principe della Torre e Tasso, 2. Duca di Castel Duino (* 16. MĂ€rz 1907; â 17. MĂ€rz 1986). Die Ehe wurde am 11. Mai 1965 geschieden.

Seit 1914 lebte das Ehepaar in Saint-Cloud bei Paris. In den 1920er Jahren, wĂ€hrend des republikanischen Intermezzos in Griechenland, als Prinz Georgs Bruder, König Konstantin I. gestĂŒrzt worden war, gewĂ€hrte Marie aufgrund ihrer finanziellen Mittel geflohenen Mitgliedern der griechischen Königsfamilie Zuflucht. Beispielsweise lebte der Neffe ihres Mannes, Prinz Philip, der spĂ€tere Herzog von Edinburgh, mit seinen Eltern und vier Schwestern sieben Jahre lang mit ihrer UnterstĂŒtzung im Nachbarhaus in Saint-Cloud.[1] Prinzessin Marie finanzierte den fĂŒnf Kindern ihre Ausbildung in Privatschulen.[2]
Als Folge der Besetzung Frankreichs durch die deutsche Wehrmacht kehrte Georg im Februar 1941 nach Griechenland zurĂŒck, musste allerdings nach dem deutschen Einmarsch in Griechenland fliehen und kam ĂŒber Kreta und Ăgypten nach SĂŒdafrika, das ihm im Juli 1941 Aufnahme gewĂ€hrte. Erst im November 1944 kehrte Georg nach Europa zurĂŒck, zunĂ€chst nach London und Anfang 1945 nach Paris, wo er bis zu seinem Tod 1957 wieder mit Marie in Saint Cloud lebte.
Marie Bonaparte und Sigmund Freud
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Marie Bonaparte litt lebenslang unter FrigiditĂ€t. Die Zeugung ihrer Kinder war fĂŒr beide Beteiligte mehr lĂ€stige PflichtĂŒbung als befriedigender Liebesakt. Die Penetration lieĂ sie praktisch kalt. Symbolisch empfand sie die Penetration als traumatische Bedrohung, als sadistischen Einbruch in ihr Wesen, der ihrer Vernichtung galt.
Sie war mit RenĂ© Laforgue, einem der fĂŒhrenden französischen Freudianer, befreundet und befasste sich mit der freudschen Sicht auf Probleme weiblicher SexualitĂ€t, insbesondere mit dessen entwicklungstheoretischer EinschĂ€tzung von infantil-klitoraler und reifer vaginaler ErogenitĂ€t. Im Gegensatz zum freudschen Begriff der PsychosexualitĂ€t glaubte sie, dass ihre FrigiditĂ€t und auch die anderer Frauen anatomisch bedingt sei, durch die Distanz zwischen Klitoris und Meatus urethrae; spĂ€ter empfahl sie einen chirurgischen Eingriff zur VerkĂŒrzung des Abstandes von Klitoris und Vaginalöffnung, um die FrigiditĂ€t zu kurieren. Zugleich kritisierte sie die freudsche Vorstellung der notwendigen Ablösung der Klitoris als erogene Leitzone:
âDie Klitoris ist fĂŒr alle Frauen das zentrale Organ der sexuellen LustgefĂŒhle, und das trotz der diffusen Empfindlichkeit der Vagina, der es niemals gelingen wird, die Klitoris zu ersetzen. Weil die Klitoris dem Penis entspricht (âŠ) kann die normale Frau ohne sie ebenso wenig lustvolle Kontakte erleben wie der Mann ohne seinen Penis.â
Nach scheiternden Vermittlungsversuchen RenĂ© Laforgues wandte sie sich 1925 direkt an Sigmund Freud, der einer Behandlung schlieĂlich zustimmte. Im Herbst begann eine erste, etwa sechs Monate dauernde Analyse, die spĂ€ter durch kĂŒrzere Sitzungsphasen aufgefrischt wurde. Sie entdeckte ihre Schreibhefte aus der Kindheit wieder und konnte ZusammenhĂ€nge zwischen den alptraumhaften Geschichten und vergessenen, verdrĂ€ngten realen Ereignissen von damals herstellen. Durch Freud begleitet wurde ihr klar, dass sie im frĂŒhkindlichen Alter zur Zeugin diverser sexueller Praktiken (u. a. Fellatio) zwischen ihrer Pflegerin und einem Stallknecht geworden war. Diese verstörenden Erlebnisse hatte sie unter anderem in ihren kindlichen Schreibheften in symbolisch entstellter Form notiert, um sie nun in reales Geschehen rĂŒckĂŒbersetzt an der RealitĂ€t ĂŒberprĂŒfen zu können. Sie befragte den ehemaligen Pferdepfleger, der schlieĂlich die rekonstruierte Geschichte bestĂ€tigte. Damit aber war fĂŒr Marie Bonaparte zugleich die Wissenschaftlichkeit der Psychoanalyse zur Gewissheit geworden. Ihre spezielle âFrigiditĂ€tâ allerdings konnte auch Freud nicht beheben. 1927 lieĂ sie den Wiener GynĂ€kologen Halban die Operation an sich ausfĂŒhren, fĂŒr die sie zuvor schon geworben hatte.
Aus der zunĂ€chst als didaktisch geplanten Behandlung bei Freud entwickelte sich eine enge Freundschaft. Marie Bonaparte, Freuds Prinzessin, setzte ihren gesellschaftlichen Status und ihr Vermögen fĂŒr die Sache Freuds ein. Als Mme Freud-a-dit wurde sie zum leitenden GrĂŒndungsmitglied der SociĂ©tĂ© psychanalytique de Paris (SPP, 4. November 1926) und der Revue française de psychanalyse (1927). Sie ĂŒbersetzte Freuds Werke ins Französische und verfasste Studien ĂŒber Edgar Allan Poe, die Triebtheorie und die weibliche SexualitĂ€t.
Sie erforschte als eine der ersten Wissenschaftlerinnen ab Mitte der 1930er Jahre die Konsequenzen der Beschneidung von Frauen in Afrika.[4]
1937 erwarb sie die Briefe, die Freud an seinen ehemaligen Freund Wilhelm FlieĂ geschrieben hatte, und sicherte damit dokumentarisches Material aus der FrĂŒhzeit der Psychoanalyse, nicht zuletzt vor dem Verfasser selbst. Nach dem âAnschlussâ Ăsterreichs im MĂ€rz 1938 trug sie entscheidend zum Gelingen seiner Flucht vor den Nationalsozialisten bei, indem sie fĂŒr ihn die âReichsfluchtsteuerâ auslegte, die Freud ihr aber spĂ€ter in London zurĂŒckerstattete.
Sie starb im Alter von achtzig Jahren und wurde in Griechenland auf dem Königlichen Friedhof in Tatoi begraben. Bonapartes Beziehung zu Sigmund Freud als Patientin und Freundin wurde 2004 im Fernsehfilm Princesse Marie (deutscher Titel: Marie und Freud) verarbeitet.
Bonaparte und Freud hatten von 1932 bis zu Freuds Tod im September 1939 einen regen Briefwechsel. Diese Briefe sind fast alle erhalten. Bonaparte entwarf ihre Briefe auf Französisch und schickte sie auf Deutsch ab. Der Briefwechsel erschien (auf Französisch) im Oktober 2022 beim Verlag Flammarion.[5]
Schriften (Auswahl)
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- Autorschaft
- Ăber die Symbolik der KopftrophĂ€en. Eine psychoanalytische Studie. Vortrag in der psychoanalytischen Vereinigung am 30. November 1927. Internationale Psychoanalytische Vereinigung, Leipzig 1928.
- Der Fall Lefebvre. Zur Psychoanalyse einer Mörderin. Internationaler Psychoanalytischer Verlag, Wien 1929 (archive.org).
- Marie Bonaparte: Edgar Poe, Etude psychanalytique. Denoel & Steele, Paris 1933; (deutsch) Edgar Poe, Eine psychoanalytische Studie. Internationaler Psychoanalytischer Verlag, Leipzig / Wien / ZĂŒrich 1934; (englisch) The Life and works of Edgar Allan Poe. Imago Publishing, London 1949.
- Edgar Poe. Eine psychoanalytische Studie. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1984, ISBN 3-518-37092-8.
- Topsy. Der goldhaarige Chow. Fischer-Taschenbuchverlag, Frankfurt am Main 1985, ISBN 3-596-25150-8. (Bonaparte erzĂ€hlt in diesem Buch ĂŒber die Beziehung zu ihrem Hund Topsy)
- La mer et le rivage. Selbstverlag, Paris 1939.
- Mythes de guerre. Imago Publishing, London 1946; (englisch) Myths of War. Imago Publishing, London 1947.
- Les glanes des jours. Imago Publishing, London 1950.
- Chronos, Eros, Thanatos. Imago Publishing, London 1951.
- Monologues devant la vie et la mort. Imago Publishing, London 1951.
- Les glauques aventures de Flyda des Mers. (Mit 13 farbigen Illustrationen von John Buckland Wright). Imago Publishing, 1951.
- Psychanalyse et anthropologie. BibliothĂšque de psychanalyse et de psychologie clinique. Presses Universitaires de France, Paris 1952.
- DerriĂšre les vitres closes. Presses Universitaires de France, Paris 1958.
- La sexualité de la femme. Presses Universitaires de France, Paris 1967.
- Psychologische Ursachen des Antisemitismus. In Psyche Band 46, Nr. 12, 1992, S. 1137â1151.
- Ăbersetzungen von Werken Sigmund Freuds
- Un souvenir dâenfance de LĂ©onard de Vinci. Gallimard, Paris 1928.
- Ma vie et la psychanalyse. Gallimard, Paris 1930.
- Le mot dâesprit et ses rapports avec lâinconscient. (mit Dr Marcel Nathan.) Gallimard, Paris 1931.
- DĂ©lires et rĂȘves dans un ouvrage littĂ©raire: La âGradivaâ de Jensen. Gallimard, Paris 1931.
- Lâavenir dâune illusion. Denoel & Steele, Paris 1932.
- Essais de psychanalyse appliquée. (mit Mme Edouard Marty.) Gallimard, Paris 1933.
- Cinq psychanalyses. (mit Dr Rodolphe Loewenstein.) Denoel & Steele, Paris 1935.
- Métapsychologie. (mit Anne Berman.) Gallimard, Paris 1940.
Literatur
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- Célia Bertin: Die letzte Bonaparte. Freuds Prinzessin. Ein Leben. Kore, Freiburg 1989, ISBN 3-926023-11-2.
- Jean-Pierre Bourgeron: Marie Bonaparte et la psychanalyse, a travers ses lettres a René Laforgue et les images de son temps. Honoré Champion, Geneve 1993.
- Elisabeth Roudinesco: La bataille de cent ans. Histoire de la psychanalyse en France. Deutsche TeilĂŒbersetzung: Wien â Paris. Die Geschichte der Psychoanalyse in Frankreich. 1885â1939. Quadriga, Weinheim/Berlin 1994.
- Lisa Appignanesi, John Forrester: Die Frauen Sigmund Freuds. (Aus dem Englischen von B. Rapp und U. Szyszkowitz) 2. Auflage, dtv, MĂŒnchen 1996; hier insbesondere Kapitel 11: Marie Bonaparte und Freuds französischer Hof. S. 451â478.
- Jean-Pierre Bourgeron: Marie Bonaparte. Presses Universitaires de France, 1997.
ErwÀhnung in der Kunst
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- Princesse Marie (deutsch: Marie und Freud), Regie BenoĂźt Jacquot, Frankreich / Ăsterreich / Deutschland 2004, 2-teiliger Fernsehfilm, 188 Minuten, erzĂ€hlt u. a. die Geschichte, wie sie Freud und seiner Familie zur Flucht aus Wien verhalf. Darsteller sind Catherine Deneuve als Marie Bonaparte, Heinz Bennent als Sigmund Freud; Anne Bennent, Sebastian Koch, u. a.
- Die Hilfe, die Bonaparte Sigmund Freud bei dessen Ausreise aus Ăsterreich leistet, wird in Stefan Zweigs Werk Die Welt von Gestern erwĂ€hnt.
Weblinks
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- Literatur von und ĂŒber Marie Bonaparte im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek
- Werke von und ĂŒber Marie Bonaparte in der Deutschen Digitalen Bibliothek
- Psychoanalytische Veröffentlichungen Marie Bonapartes auf archive.org
- âPrincesse Marieâ in der Internet Movie Database
- Société Psychanalytique de Paris (SPP). Marie Bonaparte et la création de la SPP.
Einzelnachweise
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- â Hugo Vickers: Alice, Princess Andrew of Greece. Hamish Hamilton, London 2000, S. 176. ISBN 978-0-241-13686-7.
- â Celia Bertin: Marie Bonaparte. Perrin, Paris 1999, S. 249, ISBN 2-262-01602-X.
- â Unter dem Pseudonym: A. E. Narjani: ConsidĂ©rations sur les causes anatomique de la frigiditĂ© chez la femme. In: Journal MĂ©dicale de Bruxelles. 27. April 1924, S. 776; zitiert nach Lisa Appignanesi, John Forrester: Die Frauen Sigmund Freuds. MĂŒnchen 1996, S. 464.
- â B. F. Frederiksen: Jomo Kenyatta, Marie Bonaparte and Bronislaw Malinowski on Clitoridectomy and Female Sexuality. In: History workshop journal. Band 65, 2008, S. 23â48, doi:10.1093/hwj/dbn013.
- â RĂ©my Amouroux (Hrsg.): Correspondance intĂ©grale: 1925â1939. Flammarion, Paris 2022, ISBN 978-2-08-026457-2.
| Personendaten | |
|---|---|
| NAME | Bonaparte, Marie |
| ALTERNATIVNAMEN | Marie von Griechenland und DĂ€nemark; Narjani, A. E. (Pseudonym) |
| KURZBESCHREIBUNG | französische Psychoanalytikerin, durch Heirat Prinzessin von Griechenland und DÀnemark |
| GEBURTSDATUM | 2. Juli 1882 |
| GEBURTSORT | Saint-Cloud |
| STERBEDATUM | 21. September 1962 |
| STERBEORT | Gassin bei Saint-Tropez |
- Person um Sigmund Freud
- Psychoanalytiker
- Poe-Forscher
- Autor
- Sachliteratur
- Essay
- ErzÀhlung
- Literatur (Französisch)
- Literatur (20. Jahrhundert)
- Ăbersetzer aus dem Deutschen
- Ăbersetzer ins Französische
- MĂ€zen
- Familienmitglied des Hauses Bonaparte
- Familienmitglied des Hauses Oldenburg (Griechische Linie, Griechenland)
- Franzose
- Geboren 1882
- Gestorben 1962
- Frau
