
Karezza (italienisch carezza âstreichelnâ âliebkosenâ) oder auch Coitus Reservatus beschreibt eine Sexualpraktik, bei der der Mann bewusst und willentlich auf den Samenerguss verzichtet.[1] UrsprĂŒnglich nur auf den eigentlichen Geschlechtsverkehr bezogen, wird der Begriff heute weiter gefasst und bezeichnet alle Formen der sexuellen Interaktion, bei denen der Mann die Ejakulation vermeidet oder diese nicht bewusst anstrebt. Er wurde im Wesentlichen von der GynĂ€kologin Alice Bunker Stockham publiziert.
Der Schriftsteller Aldous Huxley beschrieb Karezza als ein âinniges Ineinandersein, auch zĂ€rtliche Bewegungen, die jedoch nicht zum Orgasmus fĂŒhren sollten.â[2] Obwohl der herkömmliche Orgasmus als Höhepunkt des Geschlechtsverkehrs ausgelassen wird, stellt sich durch die Entkoppelung von der Ejakulation ein anhaltender âorgastischerâ Zustand ein. Durch Karezza kann ein sehr intensives Lustempfinden und auch ein sehr intensives ZusammengehörigkeitsgefĂŒhl der Sexualpartner hervorgerufen werden, möglicherweise vermittelt durch die verstĂ€rkte AusschĂŒttung von Oxytocin.[3] Wie im Tantra soll eine Spiritualisierung der SexualitĂ€t vollzogen werden.[4]
Bezeichnung
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Karezza leitet sich vom italienischen carezza fĂŒr âLiebkosung, Streichelnâ ab.[5] Alan Watts verweist auf die persischen UrsprĂŒnge des Wortes.[6] Der lateinische Ausdruck coitus reservatus bedeutet auf Deutsch âzurĂŒckgehaltener Geschlechtsverkehrâ.
Prinzip und Technik
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Der Orgasmus sollte nicht Ziel des Geschlechtsaktes sein und seinen Endpunkt darstellen, sondern in diesem aufgehen: der gesamte Geschlechtsakt kann somit âorgasmischenâ Charakter annehmen. Beide Sexualpartner mĂŒssen dazu ihre Fixierung auf den Orgasmus lösen. Sex soll im Karezza nicht auf einen abgegrenzten, konsumatorischen Akt begrenzt sein, der im Orgasmus seinen Abschluss findet. Viel mehr soll er das ganze Wesen des Menschen und seiner Partnerschaft erfĂŒllen und âenergetisierenâ. Bazon Brock, Professor fĂŒr Ăsthetik und Kulturvermittlung, bezieht Karezza auf das Prinzip der Sublimierung, wobei die Lust kultiviert wird, âohne dass sie durch Triebabfuhr vernichtet wird.â[7]
Das Grundprinzip besteht darin, das AusmaĂ der Stimulation so zu regulieren, dass der Mann die Kontrolle ĂŒber seinen Orgasmus behĂ€lt. Es wird ein Erregungszustand in der Plateauphase gehalten. Zwar wird der Penis in die Vagina der Frau eingefĂŒhrt, dort ĂŒber lĂ€ngere Zeit aber nicht oder nur sehr mĂ€Ăig bewegt. Wenn der Mann merkt, dass er in die Orgasmusphase ĂŒbergeht, kann er durch Anspannen des PC-Muskels in Verbindung mit ruhiger Bauchatmung eine Ejakulation samt âkonventionellemâ, eruptivem Orgasmus verhindern. Der Orgasmus wird stattdessen als sich langsam aufbauendes, den ganzen Körper wellenartig durchdringendes, warmes GefĂŒhl erlebt. Der gesamte Geschlechtsakt wird ab einem bestimmten Punkt orgasmisch, der Orgasmus bildet nicht den Höhepunkt und Abschluss des Akts, sondern geht in ihm auf. Laut dem Sexualwissenschaftler Max Marcuse sei Karezza eine âLiebeskunstfertigkeitâ, durch welche âdazu bereite und -befĂ€higte Individuen ⊠zu ungewöhnlichen GlĂŒcksgenĂŒssen gelangenâ könnten.[8]
Karezza ist abzugrenzen vom Coitus interruptus, bei welchem eine Ejakulation, allerdings nach Beendigung des Geschlechtsverkehrs, auĂerhalb der Vagina erfolgt. Letzterer wird vorwiegend als VerhĂŒtungsmethode eingesetzt, ist jedoch ebenso wie Karezza fĂŒr diesen Zweck ungeeignet.[9] Zu unterscheiden ist auch das sogenannte Tease and Denial, bei dem die Verweigerung des Orgasmus meist Ausdruck spielerischer Dominanz und Unterordnung ist.
Geschichte
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Indische und chinesische UrsprĂŒnge
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Ăhnliche Vorstellungen ĂŒber eine Aufwertung und Transzendierung der SexualitĂ€t durch Ejakulationsverzicht finden sich im buddhistischen Tantra sowie im Sahaja Yoga. In der chinesischen taoistischen Philosophie wird der Samenerguss als Kraftverlust gesehen. Verschiedene daoistische Sexualpraktiken zeigen Methoden zu dessen Vermeidung. Durch den Verzicht auf diesen kann der Liebesakt beliebig lange andauern und fĂŒr beide Partner erfĂŒllender werden.[10]
Karezza im 19. und 20. Jahrhundert
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Der FrĂŒhsozialist und Pionier der freien Liebe, John Humphrey Noyes, war ein frĂŒher BefĂŒrworter des Geschlechtsverkehrs ohne Ejakulation. Das von ihm als Coitus Reservatus bezeichnete Verfahren sollte der Kultivierung der sexuellen Energie des Menschen dienen und wurde innerhalb der von ihm gegrĂŒndeten Oneida-Bewegung praktiziert. Der Verlust von Samen wurde mit dem Verlust sexueller Energie gleichgesetzt, eine Vorstellung, die dem Daoismus entlehnt ist.[11][12] Die Methode wird in seinem 1872 erschienenen Buch Male Continence beschrieben.[13]
Der Begriff Karezza wurde von der amerikanischen Ărztin Alice Bunker Stockham geprĂ€gt, die 1896 ein BĂŒchlein mit dem Titel Karezza. Ethics of Marriage. veröffentlichte. Bereits ein Jahr spĂ€ter erschien Stockhams Schrift in einer deutschen Ăbersetzung unter dem Titel Die Reform-Ehe. Ein Mittel zur Erhöhung der Daseinsfreude und zur Veredelung des Menschengeschlechts. Sie sah Karezza als Weg der geistigen Vereinigung zweier Menschen: wĂ€hrend herkömmlicher Geschlechtsverkehr mit Ejakulation der biologischen Fortpflanzung dient (und nach Stockham diesem Zweck vorbehalten sein sollte), dient Karezza der âgeistig-spirituellen Fortpflanzungâ. Laut Stockham sollte Karezza eine Technik zu einer weiterreichenden âsozio-sexuellen Revolutionâ darstellen, durch das mit Karezza einhergehende GefĂŒhl der tiefen zwischenmenschlichen Vereinigung sollte, bei regelmĂ€Ăigem Praktizieren, das VerhĂ€ltnis zwischen den Geschlechtern reformiert werden.[14]
Eine weitere Ăbersetzung des Buches von Werner Zimmermann, einer fĂŒhrenden Persönlichkeit der Lebensreform-Bewegung erschien 1924 unter dem Titel Ethik der Ehe. Karezza. Bereits 1929 erschien eine weitere Ăbersetzung eines Karezza-Ratgebers von Zimmermann: Karezza Praxis. Liebe als Austausch magnetischer KrĂ€fte, die Kunst ehelicher Liebe, der liebende Mensch als KĂŒnstler der BerĂŒhrung von J. William Lloyd. Die Schrift wurde in zahlreichen Auflagen bis in die 1960er oder 1970er Jahre aufgelegt.
Auch innerhalb der Anthroposophie wurde Karezza thematisiert, Karezza fand AnhÀnger im Umfeld des Esoterikers und Philosophen Rudolf Steiner.[15]
Ein prominenter Verfechter der Praktik wurde der amerikanische Schriftsteller und Anarchist John William Lloyd. Er veröffentlichte 1931 unter dem Titel The Karezza Method, or Magnetation: The Art of Connubial Love ein Buch ĂŒber Karezza. Er sieht darin einen vollkommeneren Weg im Umgang mit der menschlichen SexualitĂ€t. Die seelische Vereinigung der Partner beim Geschlechtsakt tritt damit in den Vordergrund gegenĂŒber der Befriedigung körperlichen Verlangens.
âIn successful Karezza the sex-organs become quiet, satisfied, demagnetized, as perfectly as by the orgasm, while the rest of the body of each partner glows with a wonderful vigor and conscious joy - tending to irradiate the whole being with romantic love; and always with an after-feeling of health, purity and well-being.â
âBei erfolgreich durchgefĂŒhrtem Karezza werden die Genitalien so ruhig, zufrieden und entspannt wie wĂ€hrend eines Orgasmus, wĂ€hrend der Rest des Körpers vor VitalitĂ€t und bewusster Wonne glĂŒht, das ganze Wesen mit Liebe erfĂŒllend. Dem Akt folgt ein GefĂŒhl von Gesundheit, Reinheit und Wohlbefinden.â
Gegenwart
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Ăber Karezza wurde in den 2010er Jahren öfter berichtet.[17][18][19] Als Alternative zu einer verstĂ€rkten sexuellen Leistungs- und Konsumbezogenheit soll Karezza, vergleichbar zur Slow-Food-Bewegung, eine tiefere und sinnlichere Erfahrung herbeifĂŒhren.[20] Von Praktizierenden werden eine tiefere emotionale Verbundenheit mit dem Partner, lustvollerer Geschlechtsverkehr und holistische Orgasmuserfahrungen berichtet.[1][21][22][23]
âKarezza turned out to be an enjoyable way to tiptoe around biology's agendaâ
âKarezza ist ein genussvoller Weg, um die biologische Tagesordnung zu umgehen.â
Karezza findet auch Anwendung im Rahmen der Paartherapie bei nachlassendem gegenseitigen sexuellen Verlangen.[24][25]
Literatur
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- Cesare A. Dorelli: Karezza. Die ideale Liebesmethode. Hermann Bauer Verlag, Freiburg 1955.
- Cesare A. Dorelli: Karezza-Liebe. Beweise fĂŒr neue GlĂŒcksmöglichkeiten. Stephenson Verlag, Flensburg 1961.
- Marie de Nannie: Carezza. Liebe in Liebkosung. Verlag Karl Schustek, Hanau/Main 1964.
- Marnia Robinson: CupidÂŽs Poisoned Arrow. North Atlantic Books, 2009. Deutsche Ausgabe: Das Gift an Amors Pfeil. Arbor Verlag, Freiburg 2010, ISBN 978-3-86781-005-0.
- Alice Bunker Stockham: Karezza. Ethics of Marriage. 1896. Deutsche Ausgabe: Die Reform-Ehe. Ein Mittel zur Erhöhung der Daseinsfreude und zur Veredelung des Menschengeschlechts. Risel, Hagen 1897.
- Werner Zimmermann: Ethik der Ehe. Karezza. 1924.
- Werner Zimmermann: Karezza Praxis. Liebe als Austausch magnetischer KrĂ€fte â die Kunst ehelicher Liebe â der liebende Mensch als KĂŒnstler der BerĂŒhrung. 1929.
Siehe auch
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Weblinks
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- Hold the orgasm, please â the Karezza technique. â Health Service der Columbia University (englisch)
- Another Way To Make Love. â Huffington Post (englisch)
Quellen
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- â a b c Karezza: Men Say Best Sex Comes Without Orgasm - American Broadcasting Company
- â Rudolf Walter Leonhardt: Liebesrausch und Drogenfrieden. In: Die Zeit. 29. Juli 1994, ISSN 0044-2070 (zeit.de [abgerufen am 7. MĂ€rz 2024]).
- â The anti-climax? How couples are having sex without reaching orgasm ON PURPOSE to put the spark back into their marriages. 10. Juli 2012, abgerufen am 7. MĂ€rz 2024.
- â J. William Lloyd (1964): The Karezza Method Health Research, Mokelumne Hill, California
- â Duden | Karezza | Rechtschreibung, Bedeutung, Definition, Herkunft. Abgerufen am 7. MĂ€rz 2024.
- â Alan W. Watts (1970): Nature, Man and Woman. Random House Inc. Vintage Books Edition. S. 172. LCCN 58-8266.
- â Dr Wolfgang Hirsch: Lohn aller MĂŒhe: Lust - GesprĂ€ch zur Weimarer Kunstschau. 8. Mai 2010, abgerufen am 7. MĂ€rz 2024.
- â WAS GIBT'S NEUES, PUSSY? In: Der Spiegel. 14. Dezember 1965, ISSN 2195-1349 (spiegel.de [abgerufen am 7. MĂ€rz 2024]).
- â J. Herdiman, A. Nakash, T. Beedham (2006): Male contraception: past, present and future. J Obstet Gynaecol; 26 (8), S. 721â727 PMID 17130015
- â Ananda K. Coomaraswami: The Dance of Shiva. The Noonday Press Inc., New York City 1957, S. 124. LCCN 56-12296. Alan W. Watts: Nature, Man and Woman. Random House Inc. Vintage Books Edition, 1970, S. 172. LCCN 58-8266.
- â Colin Wilson: Origins of the Sexual Impulse. Granada Publications, 1978, ISBN 0586021272
- â Steven Seidman (Hrsg.), Nancy Fischer (Hrsg.), Chet Meeks (Hrsg.): Handbook of the New Sexuality Studies, Routledge, 2006, ISBN 0415386489
- â John Humphrey Noyes: Male Continence, Oneida Community Publishing, 1872/Forgotten Books, 2008, ISBN 1606200445
- â Wouter J. Hanegraaff (Hrsg.), Jeffrey J. Kripal (Hrsg.): Hidden Intercourse: Eros and Sexuality in the History of Western Esotericism. Brill Academic Pub, 2008, ISBN 9004168737
- â Helmut Zander: Anthroposophie in Deutschland, 2 Bde.: Theosophische Weltanschauung und gesellschaftliche Praxis 1884-1945. Verlag: Vandenhoeck & Ruprecht, 2007, ISBN 3525554524
- â J. William Lloyd (1931): The Karezza Method or Magnetation: The Art of Connubial Love. ISBN 1606200461 (deutsche Ăbersetzung)
- â Sex-Trend Karezza sorgt fĂŒr geteilte Meinungen | Lust. 25. April 2014, archiviert vom ; abgerufen am 7. MĂ€rz 2024.
- â Karezza: The New No-Intercourse Sex Trend. Abgerufen am 7. MĂ€rz 2024.
- â Karezza: The New No-Intercourse Sex Trend. Archiviert vom am 1. September 2012; abgerufen am 7. MĂ€rz 2024.
- â Slow Sex: The Path of Fulfilling and Sustainable Sex ( vom 7. Oktober 2011 im Internet Archive) - Diana Richardson, Love for Couples
- â Is Sex Better Without An Orgasm? 11. Juli 2012, abgerufen am 7. MĂ€rz 2024 (englisch).
- â Sex und Partnerschaft: Karezza oder Tantra Tipps fĂŒr Beziehung. Abgerufen am 7. MĂ€rz 2024 (Schweizer Hochdeutsch).
- â Karezza: Höhepunkt? Nein, danke! - GLAMOUR. 6. September 2012, archiviert vom ; abgerufen am 7. MĂ€rz 2024.
- â Karezza: the new trend reviving sex lives ( vom 30. Mai 2013 im Internet Archive) - Body and Soul
- â Real life: "We practise karezza sex" ( vom 3. Juni 2013 im Internet Archive) - Body and Soul
