Die letzte Welt ist ein Roman von Christoph Ransmayr, der 1988 veröffentlicht wurde. Ransmayr macht darin „Ovids Verwandlungsmythen zum Material eines Spiels, das die Metamorphosen weiter- und umerzählt.“[1] Auf vielfältige Weise zieht sich das Leitmotiv, die unablässige Verwandlung, durch die verschiedenen Ebenen der Geschichten.
Inhalt
Überblick
Die Haupthandlung spielt in den ersten beiden Jahrzehnten unserer Zeitrechnung. Ein gebildeter Römer namens Cotta reist nach Tomi (heute Constanța) ans Schwarze Meer, um Gerüchte zu untersuchen, dass sein Freund Naso (das ist der Beiname des Dichters Ovid) dort im Exil verstorben sei. Er hofft auch, eine Abschrift von dessen Metamorphosen zu finden, da der Dichter selbst vor der Fahrt in die Verbannung das damals einzige Exemplar verbrannt hatte.
Die Stadt verfällt sichtlich und wird von der Natur zurückerobert. Erst ist der Eindruck der Kälte vorherrschend, später der der Hitze. Die Bewohner sind seltsam und abweisend, bei näherem Kennenlernen erscheinen sie als Figuren aus Nasos/Ovids Metamorphosen, und manche ihre Erlebnisse und erzählten Geschichten ähneln denen dieser Dichtung. Cotta findet zwar Spuren des Dichters, nicht jedoch ihn selbst und auch nicht die gesuchte Abschrift.
Am Schluss hat sich Cotta an die Verhältnisse gewöhnt. Von einer Rückkehr nach Rom ist nicht mehr die Rede, stattdessen geht er wie Naso ins Gebirge.
In Rückblenden wird erzählt, wie Nasos Leben und seine literarischen Veröffentlichungen durch eine Verkettung von Ereignissen zu seiner Verbannung aus Rom führten: Bereits seine ersten Werke kritisierten den streng geordneten Machtapparat Roms, und eine gewagte allegorische Rede bei der Eröffnung eines Stadions, die die notwendige Ehrerbietung gegenüber dem Imperator vermissen ließ, führte trotz seines literarischen Erfolgs und seiner Beliebtheit bei der Bevölkerung zur Verbannung an das entlegene Schwarze Meer.
Wie die Metamorphosen aus 15 Büchern bestehen, hat Ransmayr seinen Roman in 15 Kapitel aufgeteilt:
- Kapitel 1
Obwohl es April ist, ist es kalt. Mit einem Schiff kommt Cotta in Tomi an, dort findet er eine Unterkunft beim Seiler Lykaon. Nach einigen Tagen erfährt er, Naso habe mit seinem Diener Pythagoras in Trachila gelebt, einem Dorf hoch in den Bergen. Dort findet er zwischen Ruinen einen beschrifteten Stofffetzen, der von Naso stammen könnte, dessen noch erhaltenes Haus und dessen Diener, der aber anscheinend geistig verwirrt ist. Dennoch erzählt er ihm von Nasos letztem Tag in Rom, vor allem von der Verbrennung der Manuskripte.
- Kapitel 2
Cyparis, ein Liliputaner, kommt wie jedes Jahr in Tomi an, um dort Filme vorzuführen, die von antiker Mythologie inspiriert sind und großen Anklang bei den Bewohnern finden. Dieses Mal ist es der Mythos von Alcyone und Ceux, die sich letztendlich in zwei Eisvögel verwandeln. Die Erzählung der Handlung des Films vermischt sich mit den Beschreibungen der Reaktionen des Publikums.
- Kapitel 3
Das Kapitel schließt an die Endszene von Kapitel 1 an, wo Cotta sich in Nasos Haus aufhält. Als Pythagoras hört, dass Cotta ein Buch sucht, führt er ihn in den verwilderten Garten, wo auf großen Steinen eingemeißelt ist, dass er, Naso, sein Buch nun vollendet habe und dass es ihn unsterblich machen werden. Bei Cotta weckt das Erinnerungen an Nasos Lesungen in Rom, dessen stolze Rede zur Eröffnung eines neuen Stadions und wie diese zur Ursache von Nasos Verbannung wurde.
- Kapitel 4
Cotta will in Nasos Haus übernachten, hat aber Alpträume und flieht mitten in der Nacht nach Tomi zurück. Unterwegs meint er Lycaon als Wolf zu sehen. In Tomi feiern die Einwohner anlässlich des Endes des „zweijährigen“ Winters eine Art orgiastischen Karneval, den mitzumachen sie ihn zwingen. Die Masken sind dabei Verballhornungen römischer Götter und einiger Sagengestalten, möglicherweise hatte Naso sie dazu stimuliert. In einer verkleideten Figur meint Cotta, Naso zu erkennen, aber es ist Battus.
- Kapitel 5
Mai und es wird warm. Cotta lernt die junge, als Dorfhure verschriene Echo kennen und schätzen. Obwohl sie sonst Sätze nur wiederholt, wird sie gesprächig, wenn es um Naso geht. Sie berichtet, er sei oft von Trachila gekommen, habe in Tomis Häusern Herdfeuer entzündet und behauptet, in den Flammen Geschichten zu sehen, die er den Bewohnern erzählte. Er hätte ein Buch über Steine geschrieben, glaubt sie. Cotta erinnert sich an seine erste Begegnung mit Naso in Rom. Cyparis zeigte in der Zwischenzeit weitere Filme, doch ein eifriger Missionar protestiert dagegen und vertreibt so Cyparis für immer aus Tomi.
- Kapitel 6
Es wird ungewöhnlich heiß. Cotta und Echo scheinen ein Paar zu sein, was die Bewohner von Tomi misstrauisch macht. Rückblick auf Rom nach Nasos Verbannung: er wird als Systemkritiker missbraucht, seine Gnadengesuche sind aussichtslos, Freunde erhalten keine Erlaubnis, ihn zu besuchen. Nasos Haus in Rom verfällt wie die Orte am Schwarzen Meer. Auch unter Nero ändert sich nichts. In Rom läuft schließlich das Gerücht um, Naso sei tot. Dadurch wir er erst recht subversiv. Um dem zu begegnen, lassen die Behörden eine Gedenktafel an seinem Haus anbringen.
- Kapitel 7
In einer weiteren Rückblende werden die politischen Verhältnisse in Rom angedeutet und Cottas Reise motiviert. Echo berichtet Cotta ausführlich von Naso. Cottas Unbeherrschtheit zerstört die Liebesbeziehung zu Echo, sie bleiben aber enge Freunde. Echo wiederholt Nasos Geschichten, wo die Protagonisten als Steine enden; dann die Sage von Deucalion und Pyrrha. Cotta schreibt diese Erzählungen auf und nennt sie das Buch der Steine. Nach einer (imaginierten?) Unwetternacht ist und bleibt Echo verschwunden.
- Kapitel 8
Pythagoras kauft in Famas Laden ein, für den Fall, dass Naso zurückkehrt. Fama hält eine Flucht Nasos für aussichtslos. Cotta begleitet Pythagoras ein Stück und fühlt sich dabei Naso und den Bewohnern von Tomi immer ähnlicher. Er besucht Arachne, um sich ihre Webereien anzusehen. Sie sind dominiert vom Thema Fliegen, darunter die Geschichte des Icarus. Von Versteinerungen hatte Naso ihr nie etwas erzählt.
- Kapitel 9
Während der glühenden Augusthitze erscheint ein ehemaliges Schlachtschiff, die Argo, mit ihrem Kapitän, Iason. Außer Neuigkeiten und Waren transportiert es Flüchtlinge und Auswanderer, die in den Städten am Schwarzen Meer aber unwillkommen sind. Unter den eingetauschten Waren ist auch ein von Fama bestelltes Episkop, es ersetzt die Filmvorführungen Cyparis’. Die Bewohner sind fasziniert, besonders Battus ist wie besessen von dem Gegenstand und betreibt es, doch er erstarrt zu Stein, als es nicht mehr funktioniert.
- Kapitel 10
Battus’ Mutter zerstört den Apparat endgültig und stellt ihren versteinerten Sohn wie eine Statue bei sich im Laden auf. Es ist Herbst und es regnet. Cotta hat sich der Stadt Tomi angepasst; als ihm scheint, dass ihn die ‚römische Vernunft‘ verlässt, will er unbedingt Naso finden und macht sich auf den Weg nach Trachila.
- Kapitel 11
Durch die von Erdrutschen stark veränderte Berglandschaft wandert Cotta unter großen Schwierigkeiten Richtung Trachila, er entdeckt dabei die untergegangene Bergarbeiterstadt Limyra, wo er übernachtet und sich das erste Mal seit seiner Ankunft geborgen fühlt. Am nächsten Tag erreicht er Trachila; das erste, was er sieht, ist ein halbverwester Wolf.
- Kapitel 12
Trachila ist von einer Steinlawine fast ganz zerstört worden. Aus der Ferne glaubt Cotta Naso zu erkennen, der Pythagoras etwas diktiert, was dieser auf ein Band schreibt. Beim Näherkommen verwandeln sie sich in ein Steinmal und einen Kiefernstamm. Doch der Herd raucht tatsächlich und auch das Band ist da und die Schrift darauf lesbar. Verstört bleibt Cotta zwei Tage in Trachila und sammelt die Stofffetzen an den vielen Steinmalen ein, auf denen Worte von Naso zu lesen sind. In Tomi zurück, entdeckt er, dass Lykaon verschwunden ist.
- Kapitel 13
Die vielen Erdrutsche zwingen die Bergbewohner nach Tomi, was zu Konflikten führt. Cotta, nun allein im Haus des Seilers, hängt dort die mitgebrachten Fetzen auf und konfrontiert die Stadtbewohner damit, die sich aber nicht dafür interessieren. Pythagoras war es, der die Worte Nasos aufschrieb, wo es Gelegenheit dazu gab. Cotta verbringt immer mehr Zeit mit Fama, die ihm viel erzählt. Tomi erweist sich als eine Stadt der Flüchtlinge, von denen viele aber wieder verschwinden. Einer von ihnen ist Thies, der trotz eines harten Schicksals seinen Platz in der Stadt gefunden hat.
- Kapitel 14
Der Winter schreitet voran, statt Schnee und Kälte bringt er warmen Regen, sodass die Vegetation einschließlich Schimmelpilzen immer weiter um sich greift. Cotta hat den Verdacht, dass auf den Stofffetzen Ereignisse in Tomi vermerkt sind. Philomela, die totgeglaubte Schwester Procnes, kehrt nach Jahren wieder zurück. Ihr Gesicht ist zerstört, ihre Zunge herausgerissen und sie ist anscheinend wahnsinnig. Aus einer Geste ist zu schließen, dass sie von Tereus einst vergewaltigt und verstümmelt worden war.
- Kapitel 15
Tereus kommt vom Fischen zurück und trägt seinen von Procne aus Rache für Philomela erstochenen Sohn Itys ins Haus. Dann verfolgt er Procne mit einer Axt. Die flüchtet sich mit Philomela in Cottas Haus. Am Morgen erscheint Tereus mit der Axt, doch die Frauen verwandeln sich in eine Schwalbe und eine Nachtigall und der Schlachter in einen Wiedehopf. Cotta entdeckt, dass dieses Ende schon auf den Fetzen stand, wie auch das der Stadt Tomi, das jedoch noch nicht eingetreten ist. Ihm scheint, dass Naso in seinen Metamorphosen nicht nur Vergangenes verarbeitet, sondern auch Zukünftiges vorausgesehen hat. Der verstörte Cotta macht sich nochmals auf nach Trachila, um ein Stoffstück zu finden, auf dem sein eigener Name steht.
Charaktere
Nur Cotta, Naso bzw. Ovid und Kaiser Augustus sind historisch verbürgte Figuren des Romans. Alle anderen hat Ransmayr Ovids mythologischem Werk entnommen.
- Alcyone, Figur eines Dramas, das Cyparis vorführt
- Arachne, taubstumme Weberin von Tomi. Gichtkrank. Ihre künstlerischen Webereien sind von Nasos Erzählungen inspiriert. Sie verständigt sich durch Lippenlesen und Fingeralphabet.
- Augustus, Kaiser Roms zu Lebzeiten Ovids
- Battus, Epileptiker, Sohn der Krämerin Fama
- Ceyx, Figur eines Dramas, das Cyparis vorführt
- Cotta, Hauptfigur, die sich auf der Suche nach Ovid nach Tomi begibt. Vorbild ist Ovids Freund Cotta Maximus Messalinus, der den Dichter jedoch nie besuchte.
- Cyane, Frau des verbannten Ovid
- Cyparis, zwergwüchsiger wandernder Filmvorführer
- Echo, Vertraute Cottas, eine schöne Frau, die ein wandernder, schmerzhafter Schuppenfleck entstellt. Wiederholt die Sätze, die sie hört, anstatt Antwort zu geben. Hat immer wieder Liebhaber, die sie mit Waren bezahlen.
- Fama, Krämerin von Tomi und Mutter von Battus. Sehr gesprächig.
- Itys, Sohn des Schlachters Tereus und seiner Frau Procne
- Lichas, ein Missionar der Altgläubigen
- Lykaon, Seiler von Tomi, vermietet Cotta ein Zimmer. Scheint sich hin und wieder in einen Wolf zu verwandeln.
- Naso, Beiname Ovids aufgrund seiner großen Nase, mit dem der Dichter im Roman bezeichnet wird
- Phineus, Schnapsbrenner und Wirt Tomis. In seiner Kneipe treffen sich Personen, die sich sonst nicht vertragen.
- Procne, kränkliche und stark übergewichtige Frau von Tereus, dem Schlachter
- Proserpina, Verlobte des Thies, des Totengräbers von Tomi
- Pythagoras, verwirrter Knecht Nasos
- Tereus, gewalttätiger Schlachter Tomis und Ehemann Procnes
- Thies (Dis Pater), Salbenrührer und Totengräber, der durch einen Krieg von Friesland nach Tomi verschlagen wurde. Posttraumatische Belastungsstörung. Durch einen Unfall bei der Desertion verlor er mehrere Rippen.
Deutung
Auffällig ist die Vermischung der Zeitebenen der Antike (genaue Zeitspanne: 8 bis 17 n. Chr.) und der Gegenwart. Beispielsweise führt der zwergwüchsige Cyparis Filme vor, und Ovid schickt seiner Frau Cyane ein Foto der Stadt Tomi.
Neben der Chronologie bildet der Autor auch die Geographie realitätsfremd ab. Beispielsweise liegt Tomi/Constanța an einer flachen Küste, die in starkem Kontrast zur beschriebenen Steilküste mit dahinter liegendem Gebirge steht. Auch Rom ist in seinen geographischen Eigenschaften ein Kontrast zur historischen Hauptstadt des römischen Reiches.
Rezension
Die letzte Welt war eines der erfolgreichsten literarischen Werke 1988. Der Roman wurde unter anderem im Spiegel, in der taz und in der Zeit gelobt.
Einige führten den Erfolg des Romans ausschließlich auf die geschickte Vermarktung des Werkes durch den Greno Verlag und die Unterstützung Hans Magnus Enzensbergers zurück. Die letzte Welt erschien zuerst in der von Enzensberger herausgegebenen Reihe Die Andere Bibliothek.
Politische Brisanz
Dass der Roman politisch brisant ist, beweist ein Vorfall in Rumänien: Die dortigen Autoritäten wollten Die letzte Welt nicht in einer Anthologie zulassen, da „darin zu deutlich auf die rumänischen Verhältnisse und die Rolle des großen Conducător (Nicolae Ceaușescu) Bezug genommen werde.“ Ransmayr äußerte sich selbst dazu: „Ich habe damals eine fast kindliche Genugtuung darüber empfunden, dass immerhin ein Betroffener, der Zensor, eine Passage der Letzten Welt durchaus richtig verstanden hat.“
Literatur
Ausgaben
- Erstausgabe: Die letzte Welt. Roman. Mit einem Ovidischen Repertoire. Ziffernzeichnungen von Anita Albus. In: Die andere Bibliothek, herausgegeben von Hans-Magnus Enzensberger. Greno, Nördlingen 1988, ISBN 3-89190-244-1.
- Taschenbuchausgabe: Fisch Tb 1690. Fischer-Taschenbuch-Verlag, Frankfurt am Main 1991, ISBN 3-596-29538-6.
- Gebundene Ausgabe: Fischer, Frankfurt am Main 2008, ISBN 978-3-10-062939-5.
- Hörbuch: Christoph Ransmayr liest Christoph Ransmayr: Die letzte Welt. Ungekürzte Autorenlesung. ORF. Regie: Harald Krewer. Argon, Berlin 2008, ISBN 978-3-86610-431-0. 8 CDs mit Booklet.
Sekundärliteratur
- Oldenbourg Interpretationen Nr. 59, Die letzte Welt, München 1992, ISBN 3-486-88658-4.
- Esther Felicitas Gehlhoff: "Wirklichkeit hat ihren eigenen Ort – Lesarten und Aspekte zum Verständnis des Romans 'Die letzte Welt' von Christoph Ransmayr", Paderborn 1999, ISBN 3-506-75068-2.
- Martin Kiel: Nexus. Postmoderne Mythenbilder. Vexierbilder zwischen Spiel und Erkenntnis. Mit einem Kommentar zu Christoph Ransmayrs „Die letzte Welt“. Frankfurt 1996, ISBN 3-631-30055-7.
- Uwe Wittstock (Hrsg.): Die Erfindung der Welt – Zum Werk von Christoph Ransmayr. Fischer tb, 2004.
- Thomas Neukirchen: „Aller Aufsicht entzogen“: Nasos Selbstentleibung und Metamorphose. Bemerkungen zum (Frei-)Tod des Autors in Christoph Ransmayrs Roman ‚Die letzte Welt‘. In: Germanisch-Romanische Monatsschrift 52 (2002) (FS Conrad Wiedemann), S. 191–209.
Einzelnachweise
- ↑ Rainer Godel in Mythos und Erinnerung. Christophs Ransmayr: Die letze Welt, in: Germanica, 45/2009, online: https://doi.org/10.4000/germanica.827