Klassifikation nach ICD-10 | |
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S46.1 | Verletzung des Muskels und der Sehne des Caput longum des M. biceps brachii |
S46.2 | Verletzung des Muskels und der Sehne an sonstigen Teilen des M. biceps brachii |
ICD-10 online (WHO-Version 2019) |
Bizepssehnenriss ist der Oberbegriff für den Riss (Ruptur) mindestens einer Sehne des zweiköpfigen Armbeugermuskels (Musculus biceps brachii). Es wird zwischen proximaler Bizepssehnenruptur (im Schulterbereich) und der distalen Ruptur (im Ellenbogenbereich) unterschieden.[1]
Anatomische Gegebenheiten
Der Musculus biceps brachii weist beim Menschen im Schulterbereich zwei Köpfe auf, daher der lateinische Name biceps (zweiköpfig):
- Caput longum, dessen Sehne vom Tuberculum supraglenoidale – oberhalb des eigentlichen Schultergelenks – durch den Sulcus intertubercularis verläuft. Der lange Kopf ist der primäre Unterarm-Supinator.
- Caput breve, dessen Sehne vom Processus coracoideus (Rabenschnabelfortsatz) des Schulterblatts ihren Ursprung hat. Der kurze Kopf wirkt in erster Linie als Ellenbogen-Beuger.
Beide Köpfe vereinigen sich zu einem Muskelbauch mit einer Sehne in der Ellenbeuge, die sich kurz danach wieder verzweigt und als kräftige Hauptsehne an der im Mittel 22 mm langen und 15 mm breiten Tuberositas radii ansetzt und als Nebensehne über den Lacertus fibrosus (Aponeurosis musculi bicipitis) in die Unterarmfaszie einstrahlt. Die distale Bizepssehne ist im Mittel 22 mm lang und 7 mm dick.
Die Funktion des Muskels ist im Ellenbogenbereich die Flexion und die Supination im Ellbogen. Ab einer Beugung von 90° stellt der M. biceps brachii den stärksten Supinator am Arm dar (Schraubendrehen). Des Weiteren wirkt die lange Bizepssehne auf das Schultergelenk leicht abduzierend und innenrotierend, der kurze Kopf kranialisierend und adduzierend. Beide zusammen führen eine Anteversion im Schultergelenk durch.
Ursachen
Bei 96 % aller Bizepssehnenrupturen ist die lange proximale Sehne im Schulterbereich betroffen, nur in 3 % der Fälle die distale Sehne im Ellenbogenbereich und noch seltener mit 1 % die kurze proximale Sehne. In etwa 80 % der Fälle handelt es sich um den dominanten Arm.[2]
Die proximale lange Sehne reißt bei älteren Menschen mit aktiven Schultern meist als Verschleißfolge. Besonders bei Wurfsportarten (Baseball), aber auch beim Kraftsport und beim Golfen, wird die lange Bizepssehne vermehrt durch Überlastung geschädigt. Eine Vorschädigung wird häufig auch bei einem plötzlichen Trauma, etwa durch einen schweren Sturz, als wesentliche Ursache für einen Riss der langen Bizepssehne verantwortlich gemacht, jedoch kann ebenso das Trauma die alleinige Ursache sein. Eine Abrissverletzung der langen Bizepssehne tritt gelegentlich auch in Kombination mit einer SLAP-Läsion auf.[3]
Die distale Sehne reißt durch plötzliches direktes oder indirektes Trauma. Beispielsweise kommt es beim Kraftsportler oder Handwerker durch akute Überbelastung zum Riss der Sehne. Auch kann ein direkter Schlag oder ein Schnitt in die Ellenbeuge die Sehnenzerreißung induzieren. Mitursächlich können Dopingmaßnahmen wie induzierter Muskelaufbau, hormonbedingte Schädigungen der Sehnensubstanz oder vorausgehende Cortison-Injektionen wirken. Auch unter der Behandlung mit Antibiotika aus der Gruppe der Fluorchinolone kann es zu einer Bizepssehnenruptur kommen.[4][5][6] Auf diese Assoziation wurde bereits im Jahr 1995 hingewiesen.[7] Bei Rauchern ist das Risiko eines Sehnenrisses um den Faktor 7,5 höher.[8]
Vorschädigungen
Wie bei jeder Sehnenruptur kann eine Vorschädigung des betroffenen Gewebes vorliegen, wodurch die ansonsten sehr stabile Struktur sich zwar im alltäglichen Gebrauch als intakt erweist, bei plötzlichen Kraftspitzen allerdings die geforderte Stabilität nicht mehr hat.
Ursachen für eine solche Schwächung können sein:
- Überlastungsschäden an exponierten Stellen durch hohe Zugkräfte, Scheuern an anderen Strukturen, Wurfsportarten etc.
- Ischämie an morphologischen Engpässen
- Degeneration durch wiederholtes Einspritzen von z. B. Kortison
- degenerative Erkrankungen des Bindegewebes, genetische Disposition
- Erkrankungen des rheumatischen Formenkreises
- Alter
Klinische Erscheinungen
Proximale Bizepssehnenruptur (lange Bizepssehne)
Quelle: [9]
- kurz andauernder Schmerz, dann relativ schmerzarm
- Schwäche der Abduktion der Schulter und der Flexion des Ellenbogens (insgesamt nur mäßiger Kraftverlust)
- Entstehung einer distalen Schwellung bzw. Verlagerung des Muskelbauches in Richtung Ellenbogen bei Muskelkontraktion
Distale Bizepssehnenruptur
- Akuter starker Schmerz
- Peitschenknallartiges Geräusch
- Functio laesa (Funktionsverlust), Flexion und Supination im Ellbogengelenk nicht mehr durchführbar (insgesamt deutlicher Kraftverlust)
- Tastbare Delle im Rupturbereich des Sehnenverlaufs, in die sich Blut ergießt und somit ein Hämatom[9] bildet
- Entstehung einer proximalen Schwellung bzw. Verlagerung des Muskelbauches in Richtung Schulter bei Muskelkontraktion[9]
Untersuchungsmethoden
- Anamnese und Klinik im Vergleich zur Gegenseite
- Sonographie
- Röntgen zum Frakturausschluss (proximale Ruptur: Schultergelenk in 2 Ebenen, distale Ruptur: Ellenbogen in 2 Ebenen)[9]
- MRT
Behandlung
Bei einem Riss der langen Bizepssehne (Caput longum) ist die Auswirkung weniger dramatisch, da die Kraft weiterhin fast komplett über das Caput breve gewährleistet werden kann. Es tritt nur ein Kraftverlust von ca. 15 Prozent auf. Ein Anzeichen für eine Ruptur dieser Sehne ist die Verschiebung des Muskelbauches in Richtung Ellenbogen. Die Sehne verrutscht aus dem Gelenk in den Sulcus intertubercularis nach unten und verwächst dort. Eine Refixierung der Sehne am Oberrand der Schulterpfanne ist nicht sinnvoll, da die Sehne aufgrund von Gelenkveränderungen degenerativ geschädigt ist. Daher wird die Sehnenruptur entweder gar nicht behandelt oder operativ die Sehne außerhalb des Schultergelenks am Oberarmschaft fixiert, was entweder mit einem Schraubanker und Sehnennaht oder mit einer sogenannten Schlüsselloch-Technik erfolgen kann. Die Entscheidung über eine operative Maßnahme oder über die Nichtbehandlung muss entscheidend mit dem Patienten getroffen werden: Es besteht auch bei Nichtversorgung kein wesentlicher Kraftverlust, hingegen ist das kosmetische Ergebnis mit unschönem Popeye-Muskel auch für ältere Männer eher störend. Auf diese kosmetische Problematik muss im Einverständnisgespräch dringend hingewiesen werden.
Die Beugungsfunktion des M. biceps brachii im Ellenbogenbereich ist verglichen mit seiner Supinationswirkung, also Auswärtsdrehung des Unterarmes, eher untergeordnet. Die Flexion wird über den M. brachialis und M. brachioradialis ausreichend erreicht. Es geht aber durch die distale Sehnenruptur die Supinationswirkung des Muskels verloren, und es muss eine Sehnennaht durchgeführt werden. Die distale (körperferne) Sehnenruptur erfolgt immer am distalen knöchernen Sehnenansatz, sodass die Sehnennaht einerseits die Sehne fasst, andererseits übungsstabil am Knochen fixiert werden muss. Diese Fixierung am Radius kann so erfolgen, dass der Knochen angebohrt wird und die Sehnennaht mit Durchzug der Nähte oder mit Hilfe eines Nahtankers fixiert wird (vgl. die Fixationtechniken Achillessehnenruptur, Schulterluxation).
Nach der Operation ist Physiotherapie unabdingbar, um Funktion, falls möglich, wiederherzustellen und Kraft wieder adäquat aufzubauen. Nach einer anfänglichen Ruhepause, in der das Gewebe sich neu formieren soll, wird zunächst mit leichten Widerständen mit steigender Intensität gearbeitet, um die Neuformierung des Gewebes so funktionsgerecht wie möglich zu initiieren und eine Kontraktur der gelenkumgebenden Gewebe zu vermeiden.
Vorbeugung
Zur Vermeidung von Vorschädigungen tragen bei:
- Vor dem Sport aufwärmen
- Minimierung oder komplettes Einstellen des Rauchens (Rauchen kann Ischämie verursachen und vermindert die Wundheilung)
- Verletzungen und Entzündungen ausheilen lassen
- Rasanz aus Bewegungen nehmen, kontinuierlicher Spannungsaufbau
Literatur und Quellen
- Michael Schünke u. a.: Allgemeine Anatomie und Bewegungssystem. (= Prometheus). Thieme Verlag, Stuttgart 2005, ISBN 3-13-139521-4.
- Klaus Buckup: Klinische Tests an Knochen und Gelenken. 3., erw. und akt. Auflage. Thieme Verlag, Stuttgart 2005, ISBN 3-13-100993-4.
- Antje Hüter-Becker, Mechthild Dölken (Hrsg.): Physiotherapie in der Orthopädie. Thieme Verlag, Stuttgart 2015, ISBN 978-3-13-129493-7.
Weblinks
Einzelnachweise
- ↑ F. Mehrhoff u. a.: Unfallbegutachtung. Walter de Gruyter, 2005, ISBN 3-11-017982-2, S. 231. (online)
- ↑ Peter Müller: Retrospektive Studie über die Behandlung der distalen Bizepssehnenruptur mit der Refixation an der Tuberositas radii mittels Fadenanker über einen ventralen Zugang. Dissertation. München 2009, S. 1, online.
- ↑ S. S. Burkhart, D. L. Fox: SLAP lesions in association with complete tears of the long head of the biceps tendon: a report of two cases. In: Arthroscopy. 8 (1), 1992, S. 31–35.
- ↑ Chandrakanta Nayak, Barada Prasanna Samal: Quinolone induced tendon rupture: a case series. In: International Surgery Journal. Band 2, Nr. 4, 14. Dezember 2016, ISSN 2349-2902, S. 725–728, doi:10.18203/2349-2902.isj20151114 (ijsurgery.com [abgerufen am 12. März 2018]).
- ↑ Lisa A. Merenda, Laure Rutter, Kimberly Curran, Scott H. Kozin: Rupture Following Biceps-to-Triceps Tendon Transfer in Adolescents and Young Adults With Spinal Cord Injury:. In: Topics in Spinal Cord Injury Rehabilitation. Band 18, Nr. 3, 2012, ISSN 1082-0744, S. 197–204, doi:10.1310/sci1803-197, PMID 23459326, PMC 3584780 (freier Volltext).
- ↑ B. Guérin, G. Grateau, G. Quartier, H. Durand: [Rupture of the long biceps tendon following ingestion of fluoroquinolone]. In: Annales De Medecine Interne. Band 147, Nr. 1, 1996, ISSN 0003-410X, S. 69, PMID 8763095.
- ↑ More on Fluoroquinolone Antibiotics and Tendon Rupture. In: New England Journal of Medicine. Band 332, Nr. 3, 19. Januar 1995, ISSN 0028-4793, S. 193–193, doi:10.1056/nejm199501193320319, PMID 7800022.
- ↑ Lucas S. McDonald, Christopher B. Dewing, Paul G. Shupe, Matthew T. Provencher: Disorders of the proximal and distal aspects of the biceps muscle. In: The Journal of Bone & Joint Surgery. 2013, Band 95-AM, Ausgabe 13 vom 3. Juli 2013, S. 1235–1245. doi:10.2106/JBJS.L.00221.
- ↑ a b c d Checkliste Traumatologie. 7. Auflage. Georg Thieme Verlag, Stuttgart 2012, ISBN 978-3-13-598107-9, doi:10.1055/b-002-23575 (thieme.de [abgerufen am 9. Juli 2020]).