Alice Jouenne, geboren als Marie-Alice Stein, (* 14. August 1873 in Chamagne; † 10. Januar 1954 in Paris) war eine französische Lehrerin und sozialistische Aktivistin. Sie gilt als eine der Begründerinnen moderner Erziehungsmethoden und Schulformen wie der Éducation nouvelle[A 1].
Leben
Ihre Eltern waren elsässischer Abstammung und flohen nach dem Deutsch-Französischen Krieg, in dem das Elsass unter deutsche Herrschaft kam, vor der deutschen Besatzung.[1] Alice absolvierte eine Ausbildung zur Lehrerin an der École Normale in Nancy, die sie 1890 abschloss. Anschließend wurde sie nach Badonviller berufen, wo sie mehrere Jahre arbeitete, bevor sie an eine Privatschule in Paris wechselte.[1] 1904 heiratete sie Victor Jouenne, einen Sozialisten und Genossenschaftler, der sie mit seinen Ideen vertraut machte, so dass sie sich der Genossenschaft La Prolétarienne im fünften Arrondissement anschloss.[1]
1911 wurde Alice Jouenne Mitglied der Ligue des Femmes Coopératives[2] (Liga der genossenschaftlichen Frauen), für die sie die Broschüre „Les Femmes et la Coopération“ (Frauen und Kooperation) herausgab[1]. 1912 wurde sie Sekretärin der Bildungskommission der neu gegründeten Fédération nationale des coopératives de consommateurs[A 2] (Nationaler Verband der Verbrauchergenossenschaften).[1][3]
Als die Section française de l’Internationale ouvrière (SFIO) von Jean Jaurès am 25. Mai 1913 mit Unterstützung der Confédération générale du travail (CGT) und der Fédération communiste anarchiste (FCA) eine pazifistische Demonstration gegen das Dreijahresgesetz[4] organisierte, war sie neben Louise Saumoneau und Maria Vérone eine der drei Frauen, die eine Rede hielten.[5][3][6] Im selben Jahr war sie an der Gründung der Kinderzeitung Les Petits Bonshommes[A 3] beteiligt, für die sie später auch schrieb[1] und beteiligte sich im Januar 1913 an der Gründung der sozialistischen Frauengruppe der SFIO, zu deren Sekretär sie im Dezember 1914 als Nachfolgerin von Louise Saumoneau gewählt wurde.[7][1] Dieses Amt bekleidete sie 10 Jahre lang. Im Gegensatz zu Saumoneau war Jouenne allerdings mehr Sozialistin als Feministin.[8] Während dieser Zeit trat Alice Jouenne den Freimaurern bei (Le Droit Humain).[2]
Jouenne war an der Neugestaltung der Zeitung La Voix des femmes beteiligt, deren erste Nummer am 18. Oktober 1919 erschien und Artikel von Marthe Bigot, Louise Bodin, Annette Charreau, Fanny Clar, Magdeleine Marx, Marianne Rauze, Henriette Sauret, Monette Thomas und von ihr selbst enthielt.[9] Sie arbeitete auch als Journalistin für die Humanité und war Sekretär von Marcel Cachin, dem Direktor der Zeitung. Als L’Humanité in der Folge der Parteispaltung beim Kongress von Tours Presseorgan der Kommunisten wurde, legte sie diesen Posten nieder.[3]
In den folgenden Jahren widmete sie sich Erziehungsfragen, dem Pazifismus der Zwischenkriegszeit und dem Feminismus. So war sie Teil der Bewegung der Ligue internationale pour l’éducation nouvelle (Internationale Liga für eine neue Erziehung, LIEN).[3] Jouenne schrieb mehrere Artikel in der Zeitschrift der Ligue, in denen sie sich als Leiterin der Pariser École municipale de plein air[1] (Städtische Freiluftschule) und als Gründerin der Gruppe l'Éducation nouvelle (die Neue Erziehung) vorstellte.[3] Diese Gruppe unter dem Vorsitz von Georges Renard[10] wurde am 16. Februar 1922 gegründet und entwickelte sich später zur Groupe français d'éducation nouvelle. Parallel dazu gründete sie 1921 zusammen mit Frédéric Brunet[11], einem Mitglied des Pariser Stadtrats, eine städtische Freiluftschule, über die sie ein Buch schrieb.[1]
Im Mai 1929 gründete Albert Thomas das Comité des Loisirs (Freizeit-Komitee), dem Alice Jouenne angehörte.[1] 1933 trat sie in den Ruhestand und musste ihre Schule verlassen.[1]
1936 wurde sie von Suzanne Lacore, der für Kinderschutz zuständigen Sous-secrétaires d’État in der Regierung Blum, zur Kabinettschefin ernannt.[12]
Werke (Auswahl)
- La Femme et la Coopération, 1911
- Les Appels du coeur chez l’institutrice, 1925
- Les idées de Madame Fleury, 1926
- Une expérience d’éducation nouvelle, l’école de plein air, 1927
- L’enfance et la coopération, 1929
Literatur
- Guillaume Davranche: Trop jeunes pour mourir: ouvriers et révolutionnaires face à la guerre: 1909–1914. L–Insomniaque et Libertalia, 2016, ISBN 978-2-918059-82-0 (tropjeunespourmourir.com).
- Maryline Gachet, Jean-Yves Seguy: Alice Jouenne, une militante pionnière de l’Éducation nouvelle en France. In: Spirale - Revue de recherches en éducation. Band 68, 2021, doi:10.3917/spir.068.0007.
- Gisèle Hivert-Messeca, Yves Hivert-Messeca: Femmes et franc-maçonnerie: Trois siècles de franc-maçonnerie mixte en France (de 1740 à nos jours). Dervy, 2016, ISBN 978-2-84454-865-8.
- Louis-Pascal Jacquemond: L’Espoir brisé: 1936, les femmes et le Front populaire. Humensis, 2017, ISBN 978-2-410-00166-2 (google.fr).
- Charles Sowerwine: Sisters Or Citizens?: Women and Socialism in France Since 1876. Cambridge University Press, 1982, ISBN 978-0-521-23484-9.
Weblinks
- Alice Jouenne, l’héroïne vosgienne du Front Populaire. In: Radio France. (französisch).
- Angaben zu Alice Jouenne in der Datenbank der Bibliothèque nationale de France.
Anmerkungen
- ↑ Zur Erläuterung dieses Begriffs verweise ich auf den Artikel Groupe français d'éducation nouvelle in der französischsprachigen Wikipédia.
- ↑ Die Fédération nationale des coopératives de consommateurs ist eine Organisation, in der französische Genossenschaften zusammengeschlossen sind; siehe dazu auch den Artikel in der französischsprachigen Wikipédia.
- ↑ Dies kann sowohl mit „kleine Stöpsel“ als auch mit „kleine Prachtkerle“ übersetzt werden.
Einzelnachweise
- ↑ a b c d e f g h i j k Jean Gaumont, Gaston Prache: JOUENNE Alice. In: Maitron. Abgerufen am 9. April 2024 (französisch).
- ↑ a b Hivert-Messeca 2016
- ↑ a b c d e Gachet Seguy 2021, S. 7–18
- ↑ Loi des trois ans. In: Assemblée nationale. Abgerufen am 10. April 2024 (französisch).
- ↑ Davranche 2016
- ↑ L’Humanité vom 25. Mai 1913, Les orateurs du meeting auf Gallica
- ↑ Jacquemond 2017
- ↑ Sowerwine 1982
- ↑ L’Humanité vom 13. Oktober 1919, Échos auf Gallica
- ↑ Angaben zu Alice Jouenne in der Datenbank der Bibliothèque nationale de France.
- ↑ Frédéric, Antoine Brunet. In: Assemblée nationale. Abgerufen am 10. April 2024 (französisch).
- ↑ Simone Pierre: Figures et portraits de femmes: mme Alice Jouenne, chef de cabinet. In: Le mouvement féministe: organe officiel des publications de l’Alliance nationale des sociétés féminines suisses. Abgerufen am 10. April 2024 (französisch).
Personendaten | |
---|---|
NAME | Jouenne, Alice |
ALTERNATIVNAMEN | Stein, Marie-Alice (Geburtsname) |
KURZBESCHREIBUNG | französische Sozialistin und Lehrerin |
GEBURTSDATUM | 14. August 1873 |
GEBURTSORT | Chamagne |
STERBEDATUM | 10. Januar 1954 |
STERBEORT | Paris |