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Die Tele-Substitution (auch Telesubstitution) bezeichnet eine besondere Form der Substitutionsreaktion in der organischen Chemie, bei der die eintretende Gruppe (z. B. ein Nukleophil) eine Position im Molekül einnimmt, die durch mehr als ein Atom vom ursprünglichen Bindungsort der Abgangsgruppe räumlich getrennt ist. Der Begriff leitet sich vom altgriechischen „τῆλε“ (tēle, deutsch: „fern“ oder „weit entfernt“) ab und verweist auf die topologische Distanz zwischen Reaktionszentrum und Substitutionsstelle.[1]
Im Gegensatz dazu steht die cine-Substitution, bei der der Substituent in der Nachbarposition der Abgangsgruppe eingeführt wird, sowie die klassische ipso-Substitution, bei der die Substitution am exakt gleichen Atom erfolgt. Die IUPAC definiert Tele-Substitution als eine Reaktion, bei der sich der Substituent in der Produktstruktur nicht am gleichen Ort befindet wie die Abgangsgruppe im Edukt – ein strukturelles Kriterium, unabhängig vom genauen Mechanismus.
Mechanistische Grundlagen
Tele-Substitutionen treten bevorzugt bei aktivierten aromatischen oder heteroaromatischen Verbindungen auf, typischerweise in Systemen mit mehreren potenziellen Abgangsgruppen (z. B. Halogenen) und stark elektronenziehenden Substituenten. Die Reaktion verläuft über mehrere Stufen:
- Angriff eines Nukleophils an einer elektronisch aktivierten Stelle (nicht zwangsläufig die spätere Substitutionsstelle),
- Delokalisierung der Elektronendichte im π-System unter Ausbildung eines resonanzstabilisierten Zwischenprodukts (oft Meisenheimer-Komplex-ähnlich),
- Umlagerung oder elektronische Aktivierung einer entfernteren Position im Molekül,
- Austritt der Abgangsgruppe an dieser entfernten Stelle, wodurch dort die Substitution abgeschlossen wird.
In typischen Fällen wird ein Wasserstoffatom durch das Nukleophil ersetzt, während die Abgangsgruppe an anderer Stelle austritt. Formal handelt es sich also um eine besondere Variante der vikariierenden Substitution von Wasserstoffatomen. In der Literatur wurde der Begriff „vicarious substitution“ teilweise synonym verwendet, jedoch schlugen die ursprünglichen Autoren eine enger gefasste Definition vor, wonach die Abgangsgruppe bereits im Edukt vorhanden sein muss.[2]
Substrate und Reaktionsvielfalt
Tele-Substitutionen können sowohl bei aromatischen als auch bei aliphatischen Systemen auftreten. Besonders häufig beobachtet man sie in folgenden Klassen:
- 1,3,5-Triazine (z. B. Cyanurchlorid)
- Halogenierte Pyridine
- Aromatische Nitroverbindungen
- Komplexe homoaromatischer oder heteroaromatischer Liganden mit Übergangsmetallen
Auch polycyclische Systeme mit räumlich getrennten funktionellen Gruppen können Tele-Substitutionen zeigen, wobei die Abgangsgruppe sich sogar in einem benachbarten Ring befinden kann.
Der Reaktionstyp ist nicht auf nukleophile Substitutionen beschränkt. Auch elektrophile Tele-Substitutionen sind theoretisch möglich, jedoch seltener experimentell belegt.[3]
Reaktionsbedingungen
Die Reaktionsführung hängt stark vom System ab, folgt aber in der Regel folgenden Prinzipien:[3]
- Starke Nukleophile (z. B. Alkoxide, Amine, Thiolate)
- Elektronenarme aromatische Systeme
- Polare aprotische Lösungsmittel (z. B. DMSO, DMF)
- Erhöhte Temperaturen (meist > 80 °C)
Beispielreaktion

Ein klassisches Beispiel ist die Richter-Reaktion.
Literaturübersicht und Relevanz
Tele-Substitutionen wurden in der wissenschaftlichen Literatur lange Zeit wenig beachtet. Eine Analyse von Chemical Abstracts zeigte, dass zwischen 1972 und 1996 lediglich etwa 100 Veröffentlichungen explizit diesen Reaktionstyp behandelten. In jüngerer Zeit ist jedoch ein zunehmendes Interesse zu beobachten, insbesondere im Zusammenhang mit:
- Vikariierenden nukleophilen Substitutionen
- Funktionalisierung von Heteroaromaten
- Selektiver Modifikation pharmazeutischer Leitstrukturen
Einige Reaktionen, die formal den Kriterien der Tele-Substitution entsprechen, werden häufig unter anderen Namen beschrieben, z. B. als SN2′-Reaktionen, Hydrid-Umlagerungen oder rearrangierte Substitutionen im Rahmen komplexerer Prozesse wie der Beckmann-Umlagerung. Diese werden nur dann zur Tele-Substitution gezählt, wenn dies in der Originalpublikation ausdrücklich so benannt ist.
Einzelnachweise
- ↑ P. Muller: Glossary of terms used in physical organic chemistry (IUPAC Recommendations 1994). In: Pure and Applied Chemistry. Band 66, Nr. 5, 1994, S. 1077–1184, doi:10.1351/pac199466051077.
- ↑ Brian A. Jones, Jerald S. Bradshaw: Synthesis and reduction of thiocarboxylic O-esters. In: Chemical Reviews. Band 84, Nr. 1, Februar 1984, S. 17–30, doi:10.1021/cr00059a002.
- ↑ a b Jerzy Suwiński, Krzysztof Świerczek: cine- and tele-Substitution reactions. In: Tetrahedron. Band 57, Nr. 9, Februar 2001, S. 1639–1662, doi:10.1016/S0040-4020(00)01067-X.